Wie die Backsteingotik zum Geburtshelfer der Denkmalpflege und der ersten Bürgerinitiative wurde

Sie ist das leuchtende Feuer des Nordens bis hinauf in die baltischen Länder, die Backsteingotik an den Küsten der Ostsee. Mit ihren Domen, Rathäusern und Burgen bildet sie das sich bis heute verzinsende geistige Guthaben der einstigen Hanse, einen einzigartigen Bautenschatz, wie ihn keine zweite Region der Welt besitzt. Jahrzehnte schien es, als sei dieses Erbe rettungslos dem Untergang geweiht. Erst durch die Restaurierung von Grund auf seit der Wiedervereinigung hat es seine Strahlkraft zurückgewonnen.

Mit dem Wiederaufbau der Wismarer St. Georgenkirche, dieses gewaltigen Monuments aus roten Ziegeln, dessen Verfall Kirche und Staat zu DDR-Zeiten sehenden Auges in Kauf genommen hatten, ist jetzt ein Zeichen dafür gesetzt, dass das Kulturkapital, das in diesen einzigartigen Bauten steckt, gesichert wird und weitervererbt werden kann. Was macht diese schimmernde Wehr aus aufgetürmten Steinen so einzigartig?

Der Stil protzt und strotzt vom Bekenntnis zu tieferer Bedeutung

Es ist die in diese Bauten eingebrachte, allen Kleinmut und alles Verzagen sprengende Kraft. Sie kokettieren nicht mit Scherz, Satire, Ironie, sondern protzen und strotzen vom Bekenntnis zu tieferer Bedeutung. Sie wollen nicht leicht, nicht transparent, nicht schlank oder grazil sein, sondern verankern sich wie Gebirgsmassive in den Städten und Landschaften der Küste - verlässlich, dauerhaft, monumental. Der Besucher muss erst eintreten, um gewahr zu werden, welche ganz andere Welt sich in ihrem Innern auftut. Farbspiele von raffiniertester Raumwirkung wie im Münster zu Bad Doberan, Fenster von einer Höhe und Weite, die alle Häuser der alten Städte betrifft, filigrane Maßwerke von einer Zierlichkeit, die sie fast zerbrechlich erscheinen lässt, Säulen und Lisenen, aus denen die Gewölbe wie aus Strahlenbündeln wachsen. Diese sich öffnende Innenwelt mit ihren Farben, mit den wie ins Unendliche gesteigerten Raumhöhen und fein ausgearbeiteten Schmuckformen - für Menschen des Mittelalters bildete sich in ihnen die Himmelsstadt ab, das himmlische Jerusalem.

Friederich Gilly erkannte als erster die Einzigartigkeit der Baukunst

Der erste, der die Einzigartigkeit dieser Bauwerke in Deutschland erkannte, war der junge Berliner Architekt Friedrich Gilly (1772-1800). Als er in die bröckelnden, verfallenden Gemäuer der Marienburg in Westpreußen trat, überwältigte ihn das Gefühl von Ehrfurcht und Bewunderung für die Kühnheit, das Kolossale, die "außerordentliche Masse", zugleich aber auch für die technische und gestalterische Kunst des Innenausbaus und der Schmuckelemente.

Von Gilly stammt das kühne Bild, "das Gewölbe steigt von jeder Säule gleichsam wie eine Rakete auf". Er ist der Erste, der darin eine weit über die Baukunst hinausweisende Bedeutung sah. Mit seiner Begeisterung für die Marienburg wurde Gilly zu deren Retter. Mit Zeichnungen von suggestiver Kraft, die erstmals 1795 in Berlin gezeigt wurden, machte er den Zeitgenossen nicht nur die Majestät des Bauwerks, sondern auch seine nationale Bedeutung bewusst. Ihm folgten der Dichter Max von Schenkendorf mit dem Aufruf, das "Andenken der Väter" zu ehren, und der Historiker Ludwig von Baczko mit dem Appell an den "milden und vaterländisch gesinnten König", die Burg zu bewahren. Wer heute unter dem Eindruck der Großartigkeit und Einzigartigkeit des Kulturerbes der Backsteingotik steht, der wird die Grenzüberschreitung, die mit diesen Bauten gewagt worden ist, und den fortwirkenden Einfluss, der von ihnen ausgeht, auch an geschichtlichen Tatsachen messen können.

Mit der Marienkirche entwickelte sich die Aufgabe der Denkmalpflege

Die Marienburg war das erste Werk dieser Gattung gewesen, an dem sich erstmals die Aufgabe der Denkmalpflege herausgebildet hat, wie dasselbe Bauwerk am Anfang der "ersten" deutschen Bürgerinitiative steht. Und es war nochmals derselbe Bau, der damals - noch vor den Befreiungskriegen - das Erweckungserlebnis einer ganzen Generation hin zum nationalen Gedanken verkörperte. Bei der Würdigung dieser Tatsachen spielt es eine sehr geringe Rolle, wie viele künstlerische, architektonische, ideengeschichtliche Einflüsse in die norddeutsche Backsteingotik eingegangen sind. Und da ist noch einmal äußerst aufschlussreich, wie ihr "Entdecker", der geniale Gilly, mit dem Monumentalbauwerk umging: Seine Zeichnungen von der Marienburg waren, wie schon die Zeitgenossen erkannten, "schöner als der Bau selbst".

Ja, sie waren noch viel mehr. Sie waren in Teilen freie Erfindung. Verbaute Partien wurden eliminiert. Die leeren Räume füllte der Architekt mit historischem Personal, das er wie auf einer Bühne auftreten ließ. Wer heute der europäischen Route der Backsteingotik folgt, die weit von der deutschen Ostseeküste fort durch Schweden, Dänemark, Polen und die baltischen Länder führt, erfährt den Reichtum und die Besonderheiten dieser Baukunst mit einem auf das ganze Nordeuropa geweiteten Blick. Wenn er dabei gar auf die Marienburg, heute wieder Europas größte Burganlage, trifft, wird er auch einer Korrektur der Geschichtsbilder begegnen, die sich keineswegs mit einem Austausch des geschichtlichen Personals begnügt, sondern auch die Steine verrückt.

Unter allen Verformungen der Geschichte bleibt der Stil lebendig

1991, als deutsche Denkmalpfleger dank der Kontaktaufnahme des niedersächsischen Landeskonservators Hans-Herbert Möller das Bauwerk erstmals nach dem Zweiten Weltkrieg gemeinsam mit polnischen Fachkollegen offiziell besuchen konnten, präsentierte sich ihnen der Große Remter in strahlendem Weiß.

Die Spuren des ("deutschen") 19. Jahrhunderts, die farbenprächtigen und üppigen Malereien, hatten die polnischen Kollegen übertüncht, - so, wie sie im Sommerremter die Handschrift Schinkels ausgelöscht hatten. Ihr für den Bau erglühter, so sehr um seine Rettung verdienter Konservator Maciej Kilarski gestand den tieferen Sinn dieser Uminterpretation dann auch in aller Unbefangenheit ein: "Der Eindruck vom Ende des 19. Jahrhunderts sollte nivelliert werden, denn wir wollten die Spuren dieser Zeit durch Formen aus den polnischen Jahrhunderten davor ersetzen." Nichts könnte also besser belegen, dass das Erbe der Backsteingotik - wie schon zu Zeit des Architekten Friedrich Gillys - unter allen Verformungen der Geschichte auf fast unheimliche Weise ganz besonders lebendig ist.