Berlin. Im Körper ticken Milliarden innere Uhren. Sie haben Einfluss auf Wohlbefinden oder Gewicht. Geraten sie aus dem Takt, droht Krankheit.

Es scheint ungerecht. Manche Menschen nehmen schon von einem Riegel Schokolade zu. Andere können sich unentwegt den Bauch vollhauen, ohne auch nur ein Gramm zuzulegen. Eine Frage der richtigen Ernährung? Der Ausstattung des Erbguts? Forscher, die sich mit Chronobiologie beschäftigen, haben eine andere Erklärung: die innere Uhr des Menschen.

In Adipositas-Studien fanden sie heraus, dass wer nachts isst, wesentlich schneller an Gewicht zulegt. Das zeigten zunächst Experimente mit Mäusen, die anders als der Mensch in der Nacht ihre aktive Phase haben. Tiere, welche nur tagsüber – in ihrer inaktiven Phase – Nahrung bekamen, wogen später bedeutend mehr als ihre Artgenossen, die nachts fressen durften – obwohl sie die gleiche Nahrung und Bewegung hatten.

Nachts naschen besser vermeiden

Bei Tests mit Menschen kam es später zu ähnlichen Ergebnissen, nur umgekehrt. Eine aktuelle Untersuchung des amerikanischen Southwestern Medical Center in Texas zeigt, dass man selbst bei kalorienarmen Mahlzeiten zunimmt, wenn man sie während der inaktiven Zeiten des Tages verspeist. Im Klartext: Wer nachts zum Kühlschrank schlappt, um noch eine Kleinigkeit zu naschen, tut sich nichts Gutes. Es besteht also ein Zusammenhang zwischen innerer Uhr, Zeitpunkt der Nahrungsaufnahme und Fetteinlagerung.

„Die Ergebnisse sind auch deshalb so spannend, weil sich die Ernährungswissenschaft zuvor immer auf richtige oder falsche Nährstoffe konzentriert hatte. Das Essen zur falschen Zeit wurde indes unterschätzt“, sagt Henrik Oster, Direktor am Institut für Neurobiologie an der Universität zu Lübeck.

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    Nobelpreis unterstreicht Bedeutung des Bio-Rhythmus

    Sowieso fristete die Chronobiologie – also die zeitliche Organisation physiologischer Prozesse von Organismen – lange Zeit ein Nischendasein. Heute weiß man: Die innere Uhr steuert nicht nur, wann wir müde sind und wann wir aufwachen. Sie hat auch maßgeblichen Einfluss auf Gesundheit und das Wohlbefinden. „Die innere Uhr liegt allen wichtigen physiologischen Bereichen zugrunde. Ist sie aus dem Takt, ist der Mensch anfälliger für Erkältungskrankheiten, Veränderungen des Stoffwechsels, Krebserkrankungen, Diabetes und Herz-Kreislauf-Erkrankungen“, sagt der Lübecker Professor.

    Wie wichtig die Forschung in dem Bereich ist, hebt auch der diesjährige Medizin-Nobelpreis hervor, der am Sonntag in Stockholm an drei US-Wissenschaftler verliehen wird. Die Entdeckungen von Jeffrey Hall, Michael Rosbash und Michael Young erklären, wie Pflanzen, Tiere und Menschen ihren biologischen Rhythmus so anpassen, dass er mit dem Tag-und-Nacht-Rhythmus der Erde übereinstimmt. Zugrunde liegt die Erkenntnis, dass Gene – also das Erbgut – die interne Zeit steuern, wie schon die Forscher Seymour Benzer und Ronald Konopka Anfang der 70er-Jahre durch Versuche an Fruchtfliegen feststellten.

    Taktgeber ist ein Nervenknäuel im Gehirn

    Die drei US-Forscher fanden später heraus, wie die Gene zusammenarbeiten, um eine zuverlässige biologische Zeitmessung zu ermöglichen. Danach laufen praktisch in jeder Körperzelle Prozesse ab, die einem 24-Stunden-Rhythmus folgen. In unserem Körper ticken also Milliarden innerer Uhren. Taktgeber ist ein Nervenknäuel im Gehirn: Der sogenannte suprachiasmatische Nukleus dirigiert das Zusammenspiel der biologischen Uhren.

    Um das biologische Uhrwerk mit der Umwelt zu synchronisieren, passen sich Lebewesen dem Tag-Nacht-Rhythmus an. Ohne den regelmäßigen Licht-Dunkel-Takt läuft unser interner Zeitmesser etwas mehr als 24 Stunden. Das stellten Forscher fest, als sie Testpersonen beobachteten, die für längere Zeit in einem Bunker ohne Licht eingesperrt waren. Deshalb nennt die Forschung die innere Uhr auch circadiane Uhr – vom lateinischen „circa“ (ungefähr) und „dies“ (Tag) abgeleitet.

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      Schlafhormon Melatonin unterschiedlich ausgeschüttet

      Dennoch gehen zumindest die meisten von uns nicht jeden Tag später ins Bett. „Genau wie andere Lebewesen justiert der Mensch seine Uhr also täglich neu“, sagt Gregor Eichele, der am Göttinger Max-Planck-Institut die Abteilung „Gene und Verhalten“ leitet. Vor allem Licht helfe, als Zeitgeber die biologische Uhr wieder auf genau 24 Stunden zu kalibrieren.

      Dabei tickt jeder Mensch unterschiedlich. Extreme Chronotypen sind im Sprachgebrauch „Lerchen“ und damit ausgesprochene Frühaufsteher und „Eulen“, die bis spät in die Nacht noch leistungsfähig sind, aber morgens länger schlafen müssen. Ob man der eine oder andere Extremtyp oder jemand dazwischen ist, macht keineswegs nur die Gewohnheit aus.

      Neurobiologe Oster zitiert aus Studien, bei denen festgestellt wurde, dass das Schlafhormon Melatonin bei den unterschiedlichen Chronotypen mal früher, mal später ausgeschüttet wird – obwohl sie die gleichen Bedingungen vorfanden. „Solche hormonellen Unterschiede erklären, warum die einen schon um fünf Uhr putzmunter und andere vor Mittag nicht zu gebrauchen sind“, sagt Oster.

      Wer im Schichtbetrieb arbeitet, lebt gegen den Takt

      Dass Schlaf und innere Uhr untrennbar miteinander verbunden sind, spüren vor allem Flugreisende. Wer innerhalb weniger Stunden mehrere Zeitzonen durchquert, bekommt einen Jetlag – die innere Uhr gerät aus dem Takt. Auch wer im Schichtbetrieb arbeitet, also Ärzte, Kellner, Stahlarbeiter oder Polizisten, lebt gegen den Takt des Körpers. Ist das dauerhaft der Fall, fordert dies einen gesundheitlichen Tribut. Sie schlafen schlechter und leiden häufiger unter Verdauungsstörungen, Stoffwechselerkrankungen, Herz-Kreislauf-Erkrankungen sowie einem erhöhten Krebsrisiko, legen Studien nahe. „Wir können die Schichtarbeit nicht abschaffen, aber wir müssen Methoden entwickeln, die gesundheitlichen Risiken zu minimieren“, sagt Oster.

      Grundsätzlich leben alle Menschen, die morgens mit dem Wecker aufwachen, an ihrer inneren Uhr vorbei und tragen ein ordentliches Schlafdefizit mit sich herum – vor allem Eltern kleiner Kinder. Das alljährliche Vorstellen auf Sommerzeit verschärft diesen Zustand. Selbst bei vermeintlich geringen Umstellungen wie einer Stunde könne es einige Tage dauern, bis sich die innere Uhr der äußeren wieder angepasst habe, sagt Chronobiologe Eichele.

      Untersuchungen belegen noch mehr negative Folgen: Am Tag nach der Umstellung gehen zwölf Prozent mehr Menschen zum Arzt. Im gesamten Monat kommt es zu mehr Autounfällen – aufgrund von Müdigkeit und Wildtieren, die sich nicht an den früheren Verkehr gewöhnt haben. Mediziner und Schlafforscher fordern deshalb eine Abschaffung der Sommerzeit. Denn die sei, wie Oster sagt, „schlichtweg unnötig“.

      Für Jugendliche beginnt die Schule mitten in der Nacht

      Stattdessen, so plädieren Chronobiologen, sollte bei den Schulzeiten an der Uhr gedreht werden. Denn die innere Uhr, das weiß man, geht in der Pubertät nach. Für Schüler, die um acht oder früher in die Schule müssen, beginnt der Unterricht quasi mitten in der Nacht. Darunter litten Gesundheit und Lernfähigkeit, so Neurobiologe Oster. Das untermauert auch eine Studie aus den Niederlanden: Danach schlossen die Eulen unter den Schülern ihre Klausuren um eine ganze Note schlechter ab, wenn sie diese zu frühen Zeiten schreiben mussten. „Die Auswirkungen können für den ganzen Lebensweg entscheidend sein“, resümiert Oster.