“Geht doch zurück und macht was draus!“, hatte ihre Mutter gesagt. Die Tochter tat es.

Morawa. Ihre Mutter hatte sich immer gewünscht, noch einmal nach Schlesien zurückzukehren. Noch einmal das kleine Schloss in Muhrau zu sehen, die fruchtbare Erde durch ihre Finger rinnen zu lassen, durch den Park hin zu der kleinen Kapelle zu spazieren. Ihrer Tochter Melitta (79) predigte Herta von Wietersheim-Kramsta immer wieder: "Wenn der Kommunismus besiegt und Polen frei ist, dann musst du mit deinen Geschwistern zurück." Zurück an den Ort, von dem die Mutter selbst 1945 im letzten Kriegswinter flüchtete. Zurück an den Ort, der Melitta und ihren sechs Geschwistern eine glückliche Kindheit beschert hatte, bevor Hitler eine halbe Welt ins Unglück stürzte. Doch nicht um zu besitzen, so mahnte die ehemalige Gutsherrin, sollten die Kinder nach Muhrau aufbrechen, sondern um zu helfen. Den zermürbten Menschen, dem geschundenen Land.

Wenn morgen der erste Teil des ARD-Dramas "Die Flucht" über den Bildschirm läuft, wird Melitta Sallai in ihrem Wohnzimmer auf Gut Muhrau sitzen. Sie wird sich eine von ihren dünnen polnischen Zigaretten anzünden und zusehen, wie Maria Furtwängler als furchtlose ostpreußische Gutsherrin einen Flüchtlingstreck aus dem eisigen Kriegsland führt. Dann werden mehr als 60 Jahre zwischen Melittas eigener Flucht aus dem niederschlesischen Muhrau und ihrer Rückkehr ins polnische Morawa liegen.

An diesem Zweiteiler haben sich schon Monate vor der TV-Premiere die Gemüter erhitzt. Besonders die der Polen. Denn Regisseur Kai Wessel spielt mit ihrer Urangst, die Deutschen könnten sich als Opfer des Krieges darstellen. Und schlimmer noch, obwohl der Zweiteiler nur die Geschichte der Vertreibung erzählt, lässt er doch einen wichtigen Teil des polnischen Nachkriegstraumas anklingen: Eines Tages kommen die Deutschen und holen sich ihren Besitz zurück.

Nur ein müdes Lächeln, mehr will Melitta Sallai bei diesen Gedanken nicht über die Lippen. Besitz, was ist das schon? "Haben ist nicht wichtig", sagt sie. "Machen ist viel wichtiger." 1992 kehrte sie in ihr Geburtshaus nach Niederschlesien zurück. In das Dorf, das jetzt Morawa heißt. Bei dem Städtchen Strzegom, das man früher Striegau nannte. Sie folgte der ständigen Mahnung der Mutter: "Geht doch zurück und macht was draus!" Nachdem Herta von Wietersheim-Kramsta längst tot war und im Osten der Eiserne Vorhang fiel, kam in Deutschland die Familie zusammen und beschloss, einen Kindergarten in dem alten Gut zu gründen. Melitta, die gerade pensioniert worden war, wollte die Familie vor Ort vertreten. Gemeinsam gründeten sie die deutsch-polnische St.-Hedwig-Stiftung, benannt nach der Heiligen Hedwig von Schlesien, die sich um die Notleidenden kümmert. Die Stiftung pachtete Land und Schlösschen vom polnischen Staat. Der Traum vom Kindergarten für arme Familien wurde wahr. Durch die Beletage des 1864 erbauten Hauses toben jetzt 30 polnische Kinder. "Guten Morgen! Guten Tag! Hallo!", rufen sie, wenn Melitta vorbeischaut.

Am Anfang waren die Dorfbewohner skeptisch. "Was willst du denn bei der Deutschen?", fragten sie die Köchin Ula, wenn die zur Arbeit ging. Es wurde getuschelt: Kindergarten, Stiftung, bloß ein Vorwand, um sich das Gut zurückzuholen? Als dann die erste Spende einer Firma aus Deutschland kam, baute Melitta die guten Stücke demonstrativ vor dem Haus auf: zehn kleine Kinderklos. Die ersten Zweifler im Ort änderten ihre Meinung. Wohin mit so vielen Mini-Klos, wenn nicht in einen Kindergarten? Schritt für Schritt eroberte Melitta das 200-Seelen-Dorf. Zusammen mit Ula stand sie in der Küche und lernte Polnisch. Heute gibt es kein Fest, zu dem "Pani Melitta" nicht eingeladen wird. In der Kirche liest sie manchmal auf Deutsch, und wenn es regnet, mahnt die Putzfrau: "Wir müssen etwas hinlegen, damit unser Parkett nicht kaputt geht." Der Kindergarten hat Nachbarn Freunde werden lassen. 14 Arbeitsplätze sind auf dem Gut entstanden. Melitta vermietet Gästezimmer, ihre Schwester Thesi (63) und Bruder Eugen (76) sammeln Spenden.

Die Tage sind anstrengend. Abends erzählt Melitta am Kamin aus ihrem Leben. Von der reichen Kindheit in Muhrau, von der Flucht ins Kleine Walsertal, von ihrer Zeit als Au-pair in Frankreich und Portugal, von den Jahren auf einer Kaffeepflanzung in Angola. Am liebsten aber berichtet sie von den kleinen Versöhnungszeichen, die sie in Morawa erlebt hat. Sie erinnert sich an eine Gruppe deutscher Soldaten, die in der Pension reservierten. Uniformiert wollten sie kommen, in voller Montur. "Hier deutsche Soldaten einmarschieren zu lassen schien mir nicht klug", sagt Melitta. Kurzerhand lief sie zu einer benachbarten polnischen Kaserne und lud die Truppe ein. Polnische und deutsche Soldaten an einem Tisch, was für ein Abend! Am Kamin berichtet sie auch von ihren zwei Pässen, die sie inzwischen hat - dem deutschen und dem polnischen. Sie erzählt von der Beerdigung, die sie mit Nachbarn und Freunden feierte. Damals, als die Überreste ihrer Eltern nach Morawa gebracht wurden. Auf dem kleinen Friedhof hat Melitta acht Grabstellen gekauft. Ihre Mutter ist so zurückgekehrt. Einige Geschwister wollen da die letzte Ruhe finden. Und auch für Melitta ist ein Platz reserviert. An dem Ort, an dem einmal alles begann, will sie begraben sein. In schlesischer Erde, nicht weit vom Park, dem kleinen Schloss. Unter Freunden.