Kriegsverbrechen: Erstmals belegen Filmaufnahmen, daß der Massenmord an bosnischen Muslimen 1995 von Serben begangen wurde. Die Ausstrahlung im TV führte zu ersten Festnahmen.

Hamburg. Die Hauptnachrichten des Belgrader TV-Senders B 92 beginnen mit einer Warnung: "Kinder und empfindliche Menschen sollten den Fernseher ausschalten oder das Programm wechseln", sagt der Moderator. Familienvater Branislav Medic schickt seine beiden jüngsten Töchter ins Schlafzimmer. Die Ehefrau und zwei ältere Töchter, 17 und 19, dürfen bleiben. Sie sehen Szenen von bestialischer Brutalität.

Die Hauptpersonen sind Kämpfer der paramilitärischen Einheit "Skorpione" mit serbischen Fahnen und Wappen auf den Baskenmützen. Ein orthodoxer Priester hat die Männer gesegnet. Jetzt zerren sie sechs Gefesselte aus einem Militär-Lkw, bosnische Muslime aus Srebrenica, die Gesichter von Prügeln geschwollen. "Was zitterst du denn so?" fragt einer der Bewaffneten höhnisch eins der Opfer. "Der hat sich in die Hose gemacht!" erklärt ein anderer "Skorpion".

Die Gefesselten werden gezwungen, auf eine Wiese zu kriechen. Einer ist wohl zu langsam, ein Serbe tritt ihm gegen den Kopf. Dann knallen Schüsse, die Opfer bleiben auf dem Bauch liegen. Ein Gefangener steht wie gelähmt; eine Salve in den Rücken streckt auch ihn nieder. "Die Batterie ist alle", hört man den Kameramann fluchen, der Film läuft aber weiter. Die letzten beiden Muslime müssen die Leichen auf einen Haufen legen, dann werden auch sie erschossen.

Die Mörder haben keine Angst vor Entdeckung, das Video zeigt ihre Gesichter. Einer von ihnen ist Branislav Medic, und der Sprecher nennt seinen Namen. Ehefrau und Töchter sind fassungslos. "Es ist schrecklich, ich werde wahnsinnig", ruft der Familienvater. Dann kommt die Polizei. Die ältere Tochter weint seither ununterbrochen. Frau Medic sagt: "Mein Mann hat nie über seine Kriegserlebnisse geredet. Ich mag nicht über den Krieg nachdenken, es ist alles Vergangenheit."

Jetzt steht diese Vergangenheit wieder auf: Der Videofilm ist über jeden Verdacht der Fälschung erhaben, er wurde erst ein paar Stunden zuvor im Prozeß gegen den damaligen serbischen Präsidenten Slobodan Milosevic vor dem Uno-Kriegsverbrechertribunal in Den Haag gezeigt. Jetzt führt das erschütternde Dokument im Fernsehen der serbischen Bevölkerung erstmals unwiderlegbar vor Augen, daß Serben in den Gemetzeln der 90er Jahre auf dem Balkan nicht etwa nur Opfer oder tapfere Landesverteidiger, sondern Massenmörder waren.

Die Welt außerhalb Serbiens weiß das schon lange. Milosevic selbst hatte das Blutbad vorbereitet, als er 1989 auf dem historischen Amselfeld im Kosovo die Parole ausgab: "Serbien ist überall, wo Serben leben!" Als mit dem Wind des Wandels im Ostblock erst die Slowenen, dann auch Kroaten, Bosnier, Mazedonier und Albaner dem serbisch dominierten Jugoslawien den Rücken kehrten, schickte er die Armee.

In Bosnien versuchte seit 1993 der serbische General Ratko Mladic, die muslimische Bevölkerung zu vertreiben. Die EU, außenpolitisch weitgehend aus Paris und London gesteuert, reagierte viel zu spät: Lange konnten sich die Serben auf ihre Verdienste als Verbündete im Krieg gegen Hitler-Deutschland berufen. Erst als Washington Druck machte, schickten europäische Nato-Partner im Uno-Auftrag Soldaten.

Die muslimische Enklave Srebrenica sollte vom niederländischen Blauhelm-Bataillon "Dutchbat" geschützt werden. Die Holländer handelten exakt so, wie sich die Political Correctness bewaffnete Friedenssicherung vorstellt: Das Bataillon nahm keine Kampfpanzer, sondern nur Schützenpanzer mit, "um weniger bedrohlich zu wirken". Die schweren Maschinenkanonen auf den Fahrzeugen wurden gegen leichte Maschinengewehre ausgetauscht, "um nicht zu provozieren".

Den Gipfel treuherziger Gutmenschen-Naivität erklomm Oberst Ton Karremans, als er dem triumphierenden Serben-General Mladic mit Slibowitz zuprostete und noch dessen militärisches Geschick pries, als schon die Schüsse der Vernichtungskommandos knallten. Es folgte in jenem Juli vor zehn Jahren Europas größtes Kriegsverbrechen seit dem Zweiten Weltkrieg mit rund 8000 Opfern, vor allem Männern und Jungen. Erst als die USA mit Kampftruppen eingriffen, hörte das Schlachten auf dem Balkan auf. Die Hauptverantwortlichen, Mladic und Bosniens Serben-Chef Radovan Karadzic, sind seither untergetaucht - mit Unterstützung von Sympathisanten in serbischen und serbisch-bosnischen Behörden.

Die serbische Bevölkerung, während des Krieges von Propaganda gesteuert und auch danach noch lange vom freien Informationsfluß abgeschnitten, verhielt sich wie viele Deutsche nach dem verlorenen Krieg: beschwichtigen, herunterspielen, leugnen, verdrängen, vergessen. In Deutschland zwangen die Alliierten die Zivilbevölkerung 1945 allerdings, das Grauen der Konzentrationslager mit eigenen Augen wahrzunehmen.

Den Niederländern wurde die schmähliche Rolle ihrer Politiker und Soldaten erst sieben Jahre nach Srebrenica durch einen Untersuchungsbericht unausweichlich klar; die Regierung von Ministerpräsident Wim Kok trat zurück. In Serbien soll jetzt der Videofilm aus Den Haag Anstoß geben, sich endlich ehrlich mit der eigenen Schuld auseinanderzusetzen. Die Belgrader Staatsanwaltschaft ließ außer "Skorpion" Medic sieben Mittäter gleich nach der TV-Sendung verhaften.

Serbiens Ministerpräsident Vojislaw Kostunica, bislang nicht durch besonders engagierte Zusammenarbeit mit Den Haag aufgefallen, beteuerte, die schnelle Festnahme sei "wichtig".

Die Fernsehbilder schrecken nicht nur manches mit Lügen eingeschläferte Gewissen, sie reißen auch alte Wunden wieder auf: "Ich habe ihn gesehen, meinen Azmir, sein Gesicht, seine braunen Hosen, die er aus unserer Wohnung in Srebrenica mitgenommen hat", klagt Nura Alispahic aus Sarajewo - ihr 16jähriger Sohn, Zivilist, unbewaffnet, war eines der Opfer in dem Video. Der Junge hatte vorher vier Monate in einem serbischen Lager gelitten. "Ich sehe ihn fallen, sehe mit meinen eigenen Augen, wie der Feind mein Kind mordet", sagt die Frau, "kann irgend jemand verstehen, wie mir zumute ist?" Von nun an muß auch Serbien die ganze Wahrheit ertragen.