Kriegsspionage: Vor 60 Jahren landeten die Alliierten in der Normandie. Warum sie über die deutschen Truppen fast alles, aber die Deutschen über die Alliierten fast nichts wussten - oder das Falsche.

Hamburg. Leutnant Norman Poole (24), im Zivilberuf Bankkaufmann aus Somerset, landet mit seiner Brieftaube "Susan" auf einer Hecke, acht Kilometer westlich der Stadt St. Lo in der Normandie. Der Offizier des britischen Special Air Service (SAS), eines Eliteverbandes für Einsätze hinter feindlichen Linien, befreit sich von den Fallschirmleinen, kritzelt eine Meldung, befestigt sie an seinem Federvieh und lässt die Meldetaube starten - Kurs England.

Poole ist der erste alliierte Soldat, der am 6. Juni 1944 seinen Fuß auf französischen Boden setzt. Es ist D-Day, der erste Tag der alliierten Invasion im von den Deutschen besetzten Frankreich, der erste Tag der größten Landungsoperation der Geschichte.

155 000 alliierte Soldaten springen aus 1200 Transportflugzeugen ab, setzen in Segelflugzeugen aus Sperrholz zu selbstmörderischen Landungen an oder steuern in 6840 Schiffen und Booten die fünf britisch-amerikanischen Landungszonen des Unternehmens "Overlord" an.

Seit Jahren erwarten die Deutschen diese kriegsentscheidende Schlacht. Aber als der Feind an diesem 6. Juni 1944 auftaucht, sind die Soldaten der neun deutschen Besatzungsdivisionen in der Normandie in Alarmbereitschaft, ihre Generale aber nicht vor Ort.

Generalfeldmarschall Rommel, Oberbefehlshaber an der Invasionsfront und als "Wüstenfuchs" weltberühmt, feiert im 800 Kilometer entfernten Herrlingen bei Ulm den 50. Geburtstag seiner Ehefrau Lucie. Generalfeldmarschall von Rundstedt, Oberbefehlshaber West, bereitet sich in seinem Hauptquartier darauf vor, zusammen mit seinem Sohn die Küstenbefestigungen zu besichtigen.

Admiral Krancke, Marinebefehlshaber West, ist seit 24 Stunden wegen einer unwichtigen Inspektionsreise nach Bordeaux unterwegs. Generalleutnant Feuchtinger, Kommandeur der (einzigen frontnahen) 21. Panzerdivision, vergnügt sich mit seiner französischen Geliebten in Paris.

Generaloberst Dollmann, Oberbefehlshaber der 7. Armee in der Normandie, hatte die "Schnapsidee" (so Rommel später), die Kommandeure dreier Infanteriedivisionen zu einem "Kriegsspiel" ins entfernte Rennes (Bretagne) zu befehlen. Einer von ihnen, Generalleutnant Falley (91. Luftlandedivision), erfährt unterwegs von der anlaufenden Invasion, rast zurück und wird vor seinem Hauptquartier bei Picauville von US-Fallschirmjägern im Auto erschossen.

Und Generaloberst von Salmuth, Oberbefehlshaber der benachbarten 15. Armee am schwer bedrohten Pas de Calais, ist auf Wildsaujagd in den belgischen Ardennen. Einsatzbereit ist nur der einbeinige General Marcks (84. Korps), der die Invasion auf 24 Stunden genau vorausgesagt hatte. Er sollte am 6. Invasionstag fallen.

"Die Invasionsschlacht haben die deutschen Generale verloren", sagte der britische Feldmarschall Montgomery nach dem Krieg. Warum aber waren die deutschen Befehlshaber an D-Day nicht in ihren Befehlsbunkern?

Die Wahrheit ist ebenso einfach wie bestürzend: Sie hatten ihren Meteorologen geglaubt, dass die Wetterlage am 6. Juni so schlecht sei, dass eine Landungsoperation über den Kanal hinweg unmöglich sei, ja, dass alliierte Flugzeuge höchstwahrscheinlich noch nicht einmal Einsätze über Frankreich fliegen könnten. "Keine Lagebeurteilung sah am 5. Juni nach Wetter und Gezeiten eine Landung auch nur als wahrscheinlich an", notierte General Warlimont im Führerhauptquartier.

US-General Dwight D. Eisenhower aber, der Oberste Befehlshaber der Alliierten Streitkräfte, hatte in dieser "Schlacht hinter der Schlacht" die weitaus besseren Karten: In der Nacht vom 4. auf den 5. Juni 1944, einer grausigen Sturm- und Regennacht, hatte ihm sein Chef-Wetterfrosch J.M. Stagg eine Wetterprognose beschert, die Geschichte machen sollte: "Die Schönwetterzwischenfront, die uns nun erreicht hat, wird wahrscheinlich bis zum Nachmittag des 6. Juni halten. Die Sicht wird gut sein . . ." Das war es, das meteorologische "Angriffsfenster"! Und Eisenhower entschied am 5. Juni, 4.30 Uhr: "Okay, let's go!"

Dwight D. Eisenhower war ohne Zweifel der bestinformierte Feldherr der Geschichte. Er kannte fast alle deutschen Truppenverschiebungen und fast jede deutsche Stellung an der normannischen Küste. Die französische Widerstandsbewegung, die lückenlose alliierte Luftaufklärung und die britischen "Ultra"-Codebrecher in Bletchley Park, die fast alle geheimen deutschen Funksprüche mitlesen konnten, hatten ihm im "Intelligence Game" zu lauter Assen verholfen.

Dazu kam ein geniales Täuschungsmanöver, das die Deutschen in dem fatalen Glauben bestärkte, die Invasion würde nur am Pas de Calais kommen, der engsten Stelle des Ärmelkanals. Gegenüber diesem stärksten Abschnitt des "Atlantikwalles" hatten die Alliierten in Südost-England eine Heeresgruppe formiert, die in Wirklichkeit aus 50 Funkstationen, 3000 Gummipanzern, 600 Lastensegler-Attrappen und zahllosen leeren Zeltlagern bestand. Das Drehbuch zu diesem gigantischen Täuschungsmanöver, der "Operation Fortitude", umfasste allein 358 Seiten.

Auch die deutsche Spionage-Organisation unter Admiral Canaris war längst ausgeschaltet. "Double Cross" war das bestgehütete Geheimnis der britischen Nachrichtendienste. Sie hatten über 100 deutsche Spione, die Canaris auf die britische Insel geschmuggelt hatte, bei Nacht und Nebel aufgespürt und durch Folter, Drohungen und Versprechungen "umgedreht". Canaris' Spione arbeiteten fortan als Doppelagenten - zum Schein für Berlin, in Wahrheit für London. Das Ass der Asse war der polnische Hauptmann und Ex-Kunstflieger Roman Czerniawski, der schon 1940 in Frankreich ein Spionagenetz gegen Deutschland organisiert hatte, der Star jene Mathilde Carre, Deckname "Die Katze", die dreimal die Fronten gewechselt hatte und nacheinander die Geliebte des Polen und eines deutschen Abwehroffiziers gewesen war.

"Double Cross" funktionierte: Die Deutschen ließen ihre Divisionen am Pas de Calais stehen, bis die Alliierten sechs Wochen nach D-Day aus ihrem normannischen Brückenkopf ausbrachen.

Feldmarschall Erwin Rommel aber, der mit seiner Prognose "Wenn die Invasion nicht in den ersten 24 Stunden am Strand zurückgeschlagen wird, ist der Krieg verloren" Recht behalten sollte, konnte nicht hinter Eisenhowers Geheimnis kommen: Er verfügte über keine Luftaufklärung und keine deutschen Agenten. Und als die alliierte Armada an D-Day über den Ärmelkanal marschierte, patrouillierten keine deutschen Vorpostenboote vor der Küste. Sie waren nach der Sturmwarnung zurückgezogen worden. Die alliierten Landungsboote mit ihren schwer seekranken Invasionssoldaten dagegen trotzten Sturm und schwerer See.

Die Invasionsschlacht hatten die Deutschen verloren, bevor sie begonnen hatte.