Der Fraktionsvorsitzende der Linkspartei im Bundestag über die Krise auf der Krim, die Fehler des Westens – und warum ein CDU-Anhänger seiner Partei eine Spende anbietet

Hamburg. Gregor Gysi huscht an den Zuschauern in der Warteschlange vorbei. Gleich wird er in einer Diskussion der Körber-Stiftung sitzen. „Ich habe nur noch einen Stehplatz bekommen“, ruft ihm eine ältere Dame zu. „Ja, gibt’s denn so was? So viel Andrang“, sagt der Fraktionschef der Linkspartei im Bundestag. Der Dame ruft er mit einem Lächeln zu: „Gehen Sie rein und besetzen Sie einfach einen Platz.“ Wenn Gysi kommt, liegt immer auch ein bisschen Klassenkampf in der Luft. 66 Jahre ist er alt, gefühlt seit Ewigkeit Oppositionsrebell im Bundestag, trotz Herzinfarkten. Er sagt: „Ich fühle mich gut.“ Ein Gespräch über die Krim-Krise und 100 Tage schwarz-rote Koalition.

Hamburger Abendblatt: Die Eskalation auf der Krim verläuft rasant. Haben Sie Angst vor einem neuen Krieg in Europa?

Gregor Gysi: Nein, aber das liegt daran, dass ich nicht ängstlich bin. Außerdem verlasse ich mich darauf, dass die Nato-Regierungen vernünftig genug sind zu wissen, dass sie in die Ukraine nicht einmarschieren dürfen. Und auch Russlands Präsident Putin wird den Konflikt hoffentlich nicht weiter forcieren. Ich glaube letztlich an die Vernunft – auf beiden Seiten.

Die Sanktionen des Westens, die Militärpolitik und Rhetorik Russlands – all das klingt wenig deeskalierend.

Gysi: Es wird zu wenig deeskaliert. Das ist fatal. EU und Nato müssen jetzt auf Putin zugehen und Fehler einräumen: Die Nato ist nach dem Ende des Kalten Krieges ein westliches Interventionsbündnis geworden – das Russland nicht eingebunden hat. Die Osterweiterung der Nato war dann ein Affront gegen Moskau, samt Stationierung von Raketen in Tschechien und Polen.

Aus Ihrer Sicht war die Nato von Beginn an ein russland-feindliches Bündnis?

Gysi: Nicht russlandfeindlich. Aber die Nato denkt ohne Russland und noch in den Kategorien des Kalten Krieges. Das heißt, die Nato sucht noch immer vorbei an Russland und China nach Einfluss in der Welt. Was ich EU und Nato übelnehme, ist die Tatsache, dass beide nie versucht haben, ein richtiges Verhältnis zu Russland aufzubauen.

Wir reden über die Krim-Krise, und Sie zählen nur die Fehler des Westens auf.

Gysi: Nein, das ist nur die eine Seite. Russlands Annexion der Krim ist völkerrechtswidrig. Putin hat über Jahre genauso an der Ukraine gezerrt wie die EU. Es begann ein Wettkampf mit Handelsverträgen und Abkommen. Dabei hätten Russland und die EU nicht in einen Machtkampf treten dürfen. Die Ukraine muss eine Brücke sein zwischen der EU und Russland. Jetzt ist sie ein Graben.

Was muss passieren, damit dauerhaft Frieden herrscht?

Gysi: Sanktionen gegen Russland verschärfen die Krise. Was wir brauchen, ist Diplomatie. Russland und die EU müssen ein gemeinsames Sicherheitssystem in Europa aufbauen – als Ersatz für die heutige Struktur der Nato.

Im Moment bleibt der Eindruck: Wenn die Linkspartei über die Krim-Krise redet, feuert sie in alter Sowjet-Rhetorik Salven gegen Nato und den Westen ab. Kritik an Russland bleibt ein Nebensatz.

Gysi: Der Eindruck ist falsch. Aber die Putin-Kritik übernehmen ja schon alle anderen im Bundestag und meine Redezeit ist begrenzt.

Aber es wäre wichtig, diese Kritik gerade von den Linken zu hören.

Gysi: Putin hat ein falsches Denken, weil er Konflikte mit Soldaten lösen will. Die Besetzung der Krim ist völkerrechtswidrig. Eindeutiger kann man das nicht sagen. Aber wenn wir uns nur auf Putin einschießen, steigern wir die Eskalation.

Linkspolitiker sprachen von einem „faschistischen Putsch“ auf dem Maidan.

Gysi: Ich war nicht über jede Wortwahl einzelner Mitglieder glücklich, aber alle Fraktionsmitglieder teilen den Inhalt meine Reden vom 13. und 20. März. Wir haben es dort auch mit Faschisten zu tun. Das sind nicht nur Nationalisten. Deshalb verstehe ich auch nicht, warum die EU gerade mit dieser Regierung nun Teile des Assoziierungsabkommen unterzeichnet hat. Die Ukraine muss erst demokratisch wählen und Faschisten aus der Regierung ausschließen. Dann erst darf über Abkommen nachgedacht werden. Bei Geld muss man sich zunächst an die Oligarchen halten.

Derzeit treffen sich die G7-Staaten – ohne Russland. Ein richtiger Gipfel?

Gysi: Schon, aber warum der Ausschluss Russlands? Ich hätte den G8-Gipfel vorgezogen – gerade um mit Putin intensiv zu reden.

Rechtspopulisten attackieren die EU. Die Linkspartei stimmt im Zuge der Krim-Krise in den Kanon der EU-Kritik ein – von der anderen Seite. Ist das gefährlich?

Gysi: Das ist ein großer Unterschied. Die Rechten wollen raus aus dem Euro und zurück zum Europa der Nationalstaaten. Ökonomisch und politisch wäre die EU dann tot. Die Alternative für Deutschland ist eine Partei von Professoren, die davon keine Ahnung haben. China hält ein Viertel der Euro-Staatsanleihen. Wenn der Euro für sie unattraktiv wird, und China seine Anteile verkauft, hat Europa eine Währungskrise sondergleichen. Die Linkspartei steht zur europäischen Integration und zur Euro-Rettung. Aber nicht auf Kosten Südeuropas und auch nicht zulasten der Steuerzahler in Deutschland. Die heutige EU bedeutet Abbau von Sozialsystemen und Demokratie, wir wollen das Gegenteil.

EU bedeutet aber auch Freiheit.

Gysi: Teilweise. Flüchtlinge ertrinken noch immer im Meer. Europa hat sich nie Gedanken gemacht, wie man Fluchtursachen bekämpfen will. Der Ertrag der weltweiten Landwirtschaft könnte die Menschheit zweimal ernähren. Trotzdem sterben jährlich 18 Millionen Menschen an den Folgen von Hunger.

Ist ein rot-rot-grünes Bündnis 2017 durch die scharfe EU-Kritik der Linken undenkbar geworden?

Gysi: Nein. Es gibt drei Voraussetzungen für eine Koalition von SPD, Grünen und Linken, wann auch immer: Erstens müssen die Wahlergebnisse das zulassen. Dann müssen die Schnittmengen der Politik stimmen. Und es braucht eine Wechselstimmung in Deutschland. Und wenn die Deutschen in der Mehrheit eine linke Regierung wollen, dann werden auch Grüne, SPD und wir nicht um die Frage einer Koalition herumkommen. Ab Herbst wird es wohl Gespräche geben. Das wird auch durch die Krim-Krise nicht verhindert.

100 Tage regiert Schwarz-Rot nun. Kita-Ausbau, Mindestlohn, Rente mit 63 kommen. Eigentlich müssten Sie die Koalition für ihre linke Politik doch loben.

Gysi: Union und SPD haben den Bundestag ja in den ersten Monaten nach der Wahl erstmal in einen Zwangsstreik versetzt. Denn die kamen ja nicht zu Potte mit der Regierungsbildung. Nun fehlt es an der Umsetzung von Mindestlohn und Rente mit 63. Die Regierung von Schwarz-Rot hat erst nichts getan, dann viel geredet und das einzige, was sie zügig durchgesetzt haben, war die Diätenerhöhung für Abgeordnete.

Und dennoch dringt die Linkspartei nur bei der Krim-Krise mit auffällig scharfen Kommentaren durch.

Gysi: Ich habe einen anderen Eindruck. Eine Große Koalition ist auch für die Opposition eine Herausforderung. Als stärkste Oppositionspartei müssen die Linken auch das Oppositionsbedürfnis von CDU-Wählern erfüllen. Unions-Anhänger wollen eine wirksame Regierung. Aber zu einer wirksamen Demokratie gehört auch die Opposition. Ich bekomme Briefe von CDU-Anhängern, die meine Haltung in der Krim-Krise unterstützen. Einer will der Linkspartei sogar schon 5000 Euro spenden.

Sie sind jetzt 66 Jahre alt. Wie lange bleiben Sie noch Fraktionschef der Linken?

Gysi: Ich fühle mich gut und mir macht die Arbeit Spaß, zumindest gelegentlich. Es gibt also zur Zeit keinen Grund über ein Ende meiner Tätigkeit als Fraktionsvorsitzender nachzudenken.