Mexiko-Stadt. In Abwesenheit des Regierungschefs haben Gangmitglieder auf Haiti die Kontrolle übernommen und Unruhen ausgelöst. Die Hintergründe.

Haitis Gangs, die den Großteil der Hauptstadt und Teile des Inselstaates beherrschen, wollen die Regierung von Premierminister Ariel Henry stürzen. Der Regierungschef befindet sich derzeit in Kenia, um dort eintausend Polizisten zur Befriedung seines Landes im Rahmen eines internationalen Polizeieinsatzes anzuwerben. Und die Banden um den berüchtigten Boss Jimmy Chérizier alias Barbecue versuchen seit Freitag, maximales Chaos zu stiften und die Rückkehr von Henry zu verhindern.

Sie töteten seither gezielt mehrere Polizeioffiziere, brachten viele Reviere unter ihre Kontrolle und drohten, auch den Präsidentenpalast einzunehmen. Etwa 200 kriminelle Banden ringen in dem Staat, der sich mit der Dominikanischen Republik die Insel Hispaniola teilt, um Routen und Reviere und bekämpfen sich gegenseitig. Sie handeln vor allem mit Drogen und Waffen, erpressen Schutzgelder und kontrollieren faktisch die Wirtschaft des kleinen Staates.

Haiti: Gangmitglieder befreiten knapp 4000 Häftlinge aus dem Gefängnis

Am Samstag stürmten Gangmitglieder aber erstmal das völlig überfüllte Hauptgefängnis sowie eine weitere Haftanstalt in der Hauptstadt Port-au-Prince und befreiten nahezu 4000 Häftlinge. Das seien 97 Prozent der Insassen, teilte das „Anwaltskollektiv zur Verteidigung der Menschenrechte“ (CADDHO) am Sonntag mit. Laut Medienberichten wurden mindestens fünfzehn der geflohenen Häftlinge gleich nach ihrem Ausbruch getötet.

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In der Haftanstalt saßen mehrere Bandenführer ein sowie die 18 kolumbianischen Ex-Militärs und Söldner, die der Ermordung von Präsident Jovenel Moïse im Juli 2021 beschuldigt werden. Sie blieben aber offenbar aus Angst, nach der Flucht selbst getötet zu werden, im Gefängnis und flohen nicht.

Ausgangssperre und Ausnahmezustand sollen Lage beruhigen

Am Sonntagabend verhängte der haitianische Finanzminister Patrick Boisvert, der Henry in seiner Abwesenheit vertritt, eine nächtliche Ausgangssperre und einen dreitägigen Ausnahmezustand. Dies soll Polizei und Armee, die den Gangs an Feuerkraft und Mitgliedern unterlegen sind, helfen, die Situation wieder unter Kontrolle zu bringen. Die schon immer schwierige Sicherheitslage in Haiti hat sich nach der noch immer ungeklärten Ermordung von Moïse nochmals dramatisch verschärft.

Ariel Henry, Premierminister von Haiti, weilt derzeit in Kenia. Die Unruhen in Haiti stehen in direktem Zusammenhang mit seiner Reise.
Ariel Henry, Premierminister von Haiti, weilt derzeit in Kenia. Die Unruhen in Haiti stehen in direktem Zusammenhang mit seiner Reise. © AFP | SIMON MAINA

Die jüngste koordinierte Welle der Gewalt steht Beobachtern zufolge in direktem Zusammenhang mit Henrys Reise nach Kenia und der Tatsache, dass er vor wenigen Tagen bei einem Treffen der Karibischen Gemeinschaft Caricom Wahlen bis August 2025 versprach.

Gangs profitieren von Machtvakuum in Haiti

Die Banden profitieren von dem Machtvakuum nach Moïses Ermordung und haben das Land seither faktisch übernommen. Sie kontrollieren 80 Prozent von Port-au-Prince. „Wir alle, die bewaffneten Gruppen in den Provinzstädten und die in der Hauptstadt, sind vereint“, ließ Banden-Boss „Barbecue“ am Sonntag wissen und formulierte das als Drohung.

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Der getötete Präsident wurde nicht ersetzt, seit 2016 haben in Haiti keine Wahlen mehr stattgefunden. Henry regiert ohne Mandat und sollte am 7. Februar zurücktreten, was er verweigerte.

UN-Generalsekretär Guterres wirbt um Unterstützung für Haiti

Derzeit gleicht Haiti dem afrikanischen Somalia, das nach 1991 in einen blutigen Konflikt zerfiel, in dem Clans, Warlords, Banden und Privatmilizen vor allem in der Hauptstadt Mogadischu selbst um einzelne Straßenzüge kämpften. Im Januar veröffentlichten die Vereinten Nationen Zahlen, wonach im vergangenen Jahr mehr als 8400 Menschen Opfer der Bandengewalt wurden - mehr als doppelt so viele wie im Jahr 2022.

UN-Generalsekretär António Guterres hatte am Freitag bei dem Gipfeltreffen der „Gemeinschaft Lateinamerikanischer und Karibischer Staaten“ (CELAC) dringend zu mehr Unterstützung für eine internationale Mission aufgerufen, die Haiti im Kampf gegen die Bandengewalt helfen soll. Allerdings will sich nach vielen gescheiterten Missionen kaum noch ein Land in Haiti engagieren.

Haiti kann sich nicht vom Chaos befreien

Dabei ist der Karibikstaat seit mehr als 200 Jahren ein Land im chronischen Chaos. Politische Instabilität, Umstürze und US-Interventionen ziehen sich wie ein roter Faden durch die Geschichte Haitis. Demokratische Stabilität hat sich nie ausgebildet. In den 38 Jahren, seit Diktator Jean-Claude „Baby Doc“ Duvalier 1986 ins Exil floh, hat Haiti 21 Präsidenten verschlissen. Kaum einer erreichte das Ende seines Mandats, manche regierten nur Tage. Jovenel Moïse immerhin amtierte viereinhalb Jahre, bevor er bei einem filmreifen Attentat am 7. Juli 2021 nachts in seinem Haus von kolumbianischen Söldnern exekutiert wurde.

Haiti, einst blühendste Kolonie der Welt, ist heute ein unfassbares Armenhaus. Auf dem UN-Entwicklungsindex fand sich die Inselrepublik im Jahre 2022 auf Platz 163 von 191 Staaten. Das jährliche Pro-Kopf-Einkommen liegt bei rund 1610 Dollar und damit fünfmal niedriger als in der benachbarten Dominikanischen Republik (8100 Dollar).