Tel Aviv. Über Tel Aviv donnert dumpf die Luftabwehr, Sirenen heulen. Die Verzweiflung prägt den Alltag. Ein ganz persönlicher Erfahrungsbericht.

Um kurz vor zwei Uhr mittags heulen wieder die Sirenen in Tel Aviv. Die Rezeptionistin bittet uns unaufgeregt, in den Schutzkeller des Hotels zu gehen. Eine alte Frau, die in einem der Sessel in der Lobby sitzt, winkt ab. Sie will nicht gehen. Zu viel Aufwand. Wenige Sekunden später donnert es dumpf. Die israelische Luftabwehr war wieder erfolgreich.

Der Alltag im Süden Israels ist geprägt von dem Krieg, der am 7. Oktober mit der wahnwitzigen und mörderischen Terror-Attacke der Hamas begonnen hat. Ich bin erst am Donnerstagabend in Israel angekommen, und doch scheint es mir, als seien bereits Wochen vergangen. So viele Eindrücke, so viele intensive Gespräche und Begegnungen. So viel Leid.

Tel Aviv, das säkulare Zentrum des Landes, wirkt in diesen Tagen weniger vibrierend, weniger beschäftigt, als ich es von meinen vorherigen Besuchen in Erinnerung habe. Es ist nicht so, als ließen sich die Menschen hier ihren Alltag vom Krieg diktieren. Geschäfte und manche Restaurants haben geöffnet, am Strand sind die Jogger unterwegs, die Autofahrer sind ungeduldig wie eh und je, beim Bier abends wird gelacht. Aber die Straßen sind leerer als sonst. Die Touristen sind fast alle weg, dabei ist eigentlich gerade Hauptsaison. Viele Gespräche drehen sich um das, was an dem Tag geschah, als die Terroristen in Israel eindrangen.

Angehörige flehen auf einer Pressekonferenz in Tel Aviv um das Leben der Geiseln.
Angehörige flehen auf einer Pressekonferenz in Tel Aviv um das Leben der Geiseln. © ddp/News Licensing | ddp/Jack Hill

Die Geschichten, die Überlebende erzählen, die in den sozialen Medien verbreitet werden, die Bilder auf den Smartphones, sind von einem Schrecken, einem Grauen geprägt, wie ich es in dieser Intensität nur im Irak erlebt habe, als 2014 die Mörder des sogenannten Islamischen Staates die Region heimsuchten und tausende Menschen mit unsäglicher Grausamkeit massakrierten.

Die Angehörigen der Geiseln flehen. Doch ich weiß: Viel Hoffnung gibt es nicht

Immer wieder ringen Gesprächspartner mit der Fassung, wenn sie von den letzten Telefonaten mit Freunden berichten, die nur flüstern konnten, weil die Terroristen schon nahe waren, davon, wie sich selbst tagelang voller Angst verstecken mussten. Oder wenn sie erzählen, was für Menschen diejenigen waren, die jetzt nicht mehr sind. Die toten jungen Menschen, die auf dem Nova-Festival das Leben feiern wollten, die toten Kleinkinder aus den Kibbuzim.

Als ich bei einer Pressekonferenz mit Angehörigen von entführten deutschen Staatsbürgern bin, fasst es mich an, als ein Vater die Bilder seiner beiden kleinen Töchter so flehentlich wie anklagend in die Kameras hält. Es ist die pure, nackte Verzweiflung. Ich weiß: Viel Hoffnung, die Geiseln lebendig wiederzusehen, gibt es für die Angehörigen nicht.

„Shoa“: Dieses Wort fällt in den Gespräche immer wieder

Immer wieder fällt in den Gesprächen das Wort „Shoa“. Mir wird sehr schnell klar, dass die israelischen Streitkräfte in den kommenden Tagen und Wochen breite Rückendeckung haben werden, egal, wie hart die Vergeltung ausfällt, egal wie viele Opfer es auf palästinensischer Seite es geben wird.

Sie weinen um die Geiseln: Angehörige der von den Hamas-Terroristen verschleppten Frauen, Männer und Kinder.
Sie weinen um die Geiseln: Angehörige der von den Hamas-Terroristen verschleppten Frauen, Männer und Kinder. © ddp/News Licensing | ddp/Jack Hill

Als ich am Samstag das gewaltige Aufgebot an Panzern und anderem schwerem Gerät an der Grenze zum Gazastreifen sehe, ahne ich, dass die Städte und Dörfer dort bald nur noch rauchende Trümmerhaufen sein werden. Gespräche mit den Menschen in Gaza kann ich nicht direkt führen, der Landstrich ist hermetisch abgeriegelt. Aber die Videos, die heraus gelangen, sind ebenfalls erschütternd.

Zu Staub zerbombte Häuser. Blutige Leichen auf dem Asphalt der Salah-al-Din-Straße zwischen Gaza-Stadt und Chan Yunis. Tote Babys. Ein Arzt, der in einem Krankenhaus seinen toten Sohn eingeliefert bekommt. Hamas-Blockaden, mit denen die Terroristen verhindern wollen, dass die Bevölkerung vor der israelischen Invasion flieht. Diese Mörder wollen ihre eigene Bevölkerung opfern. Ich telefoniere ab und an mit einem jungen Filmemacher, der alles andere als ein Freund der Hamas ist und irgendwie versucht, nüchtern über die sich dramatisch zuspitzende Lage der Menschen in Gaza zu berichten, aber immer hoffnungsloser klingt.

Ich weiß nicht, wie sich dieser Krieg weiter entwickeln wird, ob die Hisbollah eingreift und eine zweite Front eröffnet. Aber es wird diesmal so schnell keinen Waffenstillstand geben. Dieser Krieg fängt erst an.

Russland-Reportagen von Jan Jessen