Tel Aviv/Berlin. Be‘eri, Kfar Aza und Re‘im stehen für unvorstellbares Grauen. In diesen Kibbuzim mordeten Terroristen. Doch was ist ein Kibbuz?

Die Gegend rund um den Gazastreifen ist ländlich geprägt. Hier wohnen viele Bewohner in kleinen Gemeinschaften, die nur zwischen 400 und 800 Menschen zählen. Eine von ihnen ist Re‘im. Dort fand das „Tribe of Nova“-Festival statt, das zum schrecklichen Sinnbild des Hamas-Terrors geworden ist. 260 Feiernde wurden hier brutal getötet, viele andere verschleppt. Auch in Be‘eri und Kfar Aza wüteten Hamas-Terroristen. Sie stürmten in die Orte und löschten ganze Familien aus.

Sowohl Be‘eri als auch Re‘im sind Kibbuzim (Plural von Kibbuz), ursprünglich kollektivistisch und sozialistische Gemeinschaften, die in der Geschichte des Staates Israel eine bedeutende Rolle spielten. Der Begriff kommt aus dem Hebräischen und bedeutet so viel wie „sich versammeln“. Die Idee des Kibbuz entstand im späten 19. Jahrhundert und basierte darauf, dass es kein Privateigentum geben dürfe und das Leben gemeinschaftlich organisiert werden solle. Frauen und Männer sollten gleichberechtigt sein, die Erziehung der Kinder Gemeinschaftssache. Religion spielte ursprünglich keine Rolle, später gab es dann aber eine Aufspaltung in säkulare und religiöse Kibbuzim.

Der erste Kibbuz Israels, Degania Alef, wurde 1910 gegründet. Derzeit gibt es in dem Land rund 270 Kibbuzim.
Der erste Kibbuz Israels, Degania Alef, wurde 1910 gegründet. Derzeit gibt es in dem Land rund 270 Kibbuzim. © Sara Lemel/dpa/dpa-tmn | Unbekannt

Der erste Kibbuz, Degania Alef, wurde 1910 von einer zionistischen Gruppe aus Belarus südlich des Sees Genezareth gegründet, also lange vor der Gründung des Staates Israel im Jahr 1948. Weitere Kibbuzim folgten schnell. Die landwirtschaftlich geprägten Siedlungen waren in ihren Anfängen kleine, oft auch wehrhafte Enklaven in einem vorwiegend von Arabern besiedelten Land.

Die Jahre nach der Staatsgründung waren die Blütezeit der Kibbuzim. Sie spielten eine wichtige Rolle bei der Integration von jüdischen Neuankömmlingen. Die Kibbuz-Bewohner, die nie mehr als sechs Prozent der jüdischen Gesamtbevölkerung ausmachten, galten als eine Art Elite. Viele einflussreiche Personen in der Knesset und in der Armee stammten aus den Kibbuzim.

In den 1970er-Jahren veränderte sich das Bild. Vielerorts gaben die Bewohner die strengen kollektivistischen Prinzipien auf, manche Kibbuzim gerieten in wirtschaftliche Bedrängnis und waren darauf angewiesen, neue Geschäftsfelder, etwa im Tourismus, zu erschließen.

Heute leben noch etwa vier Prozent der Israelis in Kibbuzim. Etwa 270 gibt es im gesamten Land, knapp 130.000 Menschen sind in ihnen zu Hause. Die Gemeinschaften erfahren aktuell eine Art Revival. „Die Kibbuz-Bewegung heute ist auf dem aufsteigenden Ast und sie ist sehr populär“, meint etwa Micky Drill von der Friedrich-Ebert-Stiftung in Israel. Gerade die Gegend nahe des Gazastreifens habe in den vergangenen Jahren einen erheblichen Bevölkerungszuwachs verzeichnet. Hier gibt es eine ganze Reihe von Kibbuzim, die zwar oftmals privatisiert wurden, ihren Mitgliedern aber Annehmlichkeiten wie kostenloses Wohnen und kostenfreie Kindererziehung sowie umfangreiche Sozialleistungen anbieten können. Auch die ländliche Umgebung abseits der Ballungsräume Tel Aviv und Jerusalem lockte zuletzt viele Israelis in den Süden.

Israelische Streitkräfte bergen die Leichen israelischer Bewohner aus einem zerstörten Haus im Kibbuz Kfar Aza.
Israelische Streitkräfte bergen die Leichen israelischer Bewohner aus einem zerstörten Haus im Kibbuz Kfar Aza. © dpa | Ilia Yefimovich

In den vergangenen Jahren stemmten sich viele Kibbuzim gegen die drohende Überalterung. Junge Familien zogen zu, ließen sich auch von der drohenden Gefahr durch die Hamas und Raketenbeschuss aus dem Gazastreifen nicht abschrecken. Die Hoffnung auf ein besseres Leben abseits der hektischen Städte – für Hunderte Kibbuz-Bewohner endete sie auf brutalste Weise in den frühen Morgenstunden des 7. Oktober.