Berlin. Nach dem jüngsten Skandal will der umstrittene Tübinger Bürgermeister in sich gehen – und „Mechanismen der Selbstkontrolle“ lernen.

Irgendwann am Dienstagmorgen stellt Boris Palmer ein neues Titelbild auf seiner Facebook-Seite ein. „Auszeit“ steht da in Großbuchstaben auf weißem Grund. Hinter dem letzten Buchstaben noch ein Cursor, als könnte es jeden Moment weitergehen.

Einer der umstrittensten und streitbarsten Politiker Deutschlands tritt erst einmal einen Schritt zurück. Das hatte Palmer einen Tag zuvor erklärt, mit einer „persönlichen Erklärung“ ebenfalls auf der Facebook-Seite. Ihm sei klar: „So geht es nicht weiter.“ Er könne Familie, Freunden und Unterstützern, den Mitarbeitern in der Stadtverwaltung, dem Gemeinderat und der Stadtgesellschaft die „wiederkehrenden Stürme der Empörung“ nicht mehr zumuten.

Palmer, Oberbürgermeister der schwäbischen 90.000-Einwohner-Stadt Tübingen, ist weit über die Grenzen Baden-Württembergs hinaus bekannt. Vor allem in der Migrationspolitik, zuletzt aber auch zu den Corona-Schutzmaßnahmen hatte er sich immer wieder zu Wort gemeldet mit Beiträgen, die bei den einen auf viel Zuspruch stießen – bei anderen, auch aus der eigenen Partei, auf harsche Kritik und Ablehnung. Doch der jüngste Eklat war offenbar einer zu viel: Er wolle eine Auszeit nehmen und „alle Konfrontationen mit ersichtlichem Eskalationspotenzial vermeiden“, bis er sicher sein könne, neue Mechanismen der Selbstkontrolle zu beherrschen. Gleichzeitig trat er bei den Grünen aus, die Partei bestätigte das.

Ein Monat Auszeit im Sommer soll helfen

Am Nachmittag teilte die Stadt mit, dass der Bürgermeister seine Amtsgeschäfte im Juni vorübergehend niederlegen werde, die Rede war von einem Monat. Palmer will demnach währenddessen professionelle Hilfe in Anspruch nehmen. „Auch wenn dieser Zeitraum sicher nicht ausreichen wird, um die vor mir stehende Aufgabe vollauf zu lösen, bin ich doch zuversichtlich, dass es mir gelingen wird, sie anzugehen, genug Abstand zu gewinnen und Kraft zu schöpfen“, schrieb er an die Beschäftigten der Stadtverwaltung.

Anstoß für die Entscheidung war ein Auftritt Palmers in der vergangenen Woche und die darauffolgende Debatte. Bei einer Konferenz in Frankfurt hatte der 50-Jährige wiederholt das N-Wort verwendet, eine rassistische Bezeichnung für schwarze Menschen. Als er daraufhin mit „Nazis raus“-Rufen konfrontiert wurde, antwortete er, an die Rufenden gerichtet: „Das ist nichts anderes als der Judenstern. Und zwar, weil ich ein Wort benutzt habe, an dem ihr alles andere festmacht. Wenn man ein falsches Wort sagt, ist man für euch ein Nazi.“

Vergleich mit Judenstern „falsch und völlig unangemessen“

„Falsch und völlig unangemessen“ nennt er diesen Vergleich im Nachhinein. Dass er so reagiert hat, erklärte Palmer mit „tief sitzenden Erinnerungen“, die die Situation in ihm wachgerufen habe, unter anderem „an die Gruppe Jugendlicher, dir mir als Junge Schläge androhten und riefen, man habe nur vergessen, meinen Vater zu vergasen“.

Palmers Vater, der Obstbauer Helmut Palmer, war der uneheliche Sohn eines jüdischen Metzgermeisters. Als „Remstal-Rebell“ war er Zeit seines Lebens immer wieder mit Politik und Behörden in Konflikt geraten. Eine Lebensgeschichte, die offenbar auch bei seinem Sohn Spuren hinterlassen hat. Trotzdem: „Als Politiker und Oberbürgermeister hätte ich niemals so reden dürfen“, sagte Palmer über den Vergleich mit dem Judenstern. Für die Verwendung des N-Worts entschuldigte er sich nicht.

Es war nicht das erste Mal, dass Palmer Rassismus vorgeworfen wurde. 2019 kommentierte er eine Werbekampagne der Deutschen Bahn, die unter anderem den schwarzen Koch Nelson Müller und die türkeistämmige Moderatorin Nazan Eckes zeigte, mit den Worten „Welche Gesellschaft soll das abbilden?“. Ein Jahr zuvor hatte er in einem Interview von einem Beinahe-Zusammenstoß mit einem schwarzen Fahrradfahrer berichtet und dessen Fehlverhalten darauf zurückgeführt, dass er Asylbewerber sein müsse: „Ich wette, dass es ein Asylbewerber war. So benimmt sich niemand, der hier aufgewachsen ist mit schwarzer Hautfarbe“, sagte Palmer damals.

Die Bundes-Grünen kommentieren den Abschied kühl

Für die Partei, der er seit Jahrzehnten angehörte und die er immer wieder auch hart kritisierte, war Palmer -- trotz großer Beliebtheit in Tübingen und lokalpolitischer Erfolge – damit in den vergangenen Jahren damit vor allem ein Unruheherd. Entsprechend nüchtern fielen die Reaktionen der Bundespartei über seinen Austritt aus: Der Schritt sei „folgerichtig“, kommentierte kühl Emily Büning, Bundesgeschäftsführerin der Grünen. Parteichef Omid Nouripour sagte im ZDF, Palmers Schritt sei „respektabel, und ich wünsche ihm ein gutes Leben“.

Andere dagegen ließen Bedauern erkennen. „Persönlich tut es mir leid, um diesen klugen Kopf, der unsere Partei an vielen Stellen über eine sehr lange Zeit streitbar bereichert hat“, sagte etwa Winfried Kretschmann, grüner Ministerpräsident von Baden-Württemberg. „Immer wieder hart an der Grenze und zuletzt wirklich ganz deutlich darüber hinaus.“ Die Entscheidung eine Auszeit zu nehmen, sei absolut richtig. Kretschmann galt als Förderer Palmers, der Tübinger Bürgermeister war immer wieder auch als möglicher Nachfolger des ersten und bisher einzigen grünen Landesvaters gehandelt worden.

Einstweilen aber fokussiert der sich offenbar auf seine Stadt: Der jüngste Beitrag auf Palmers Facebook-Seite dreht sich um den Umbau einer vierspurigen Straße in Tübingen, wo Asphalt bald Baumstreifen weichen soll. „Und damit verabschiede ich mich bis auf Weiteres“, endet der Post. „Auszeit.“