Berlin. Eine Rücktrittswelle innerhalb der britischen Regierung bringt das Ende von Johnson näher. Doch der Premierminister will nicht gehen.

Sind es Stunden, Tage oder Wochen? Über die Frage, wie lange Boris Johnson noch in der Downing Street ausharren kann, wurde am Mittwoch (6. Juli) in Westminster eifrig spekuliert. Dass der Premierminister bald gehen muss, daran zweifeln wenige – Kollegen, Kommentatoren und Politikexperten sind sich weitgehend einig, dass sich Johnsons Amtszeit nach knapp drei Jahren dem Ende nähert, und zwar schnell. „He’s toast“, hört man von verschiedener Seite: Er ist erledigt.

Die Ereignisse des Tages verstärkten diesen Eindruck. Der Doppelschlag am Vorabend, als Finanzminister Rishi Sunak und Gesundheitsminister Sajid Javid, beides große Tiere in seinem Kabinett, frustriert das Handtuch schmissen, hat sich als ein Dammbruch herausgestellt: Seither sind über zwei Dutzend Staatsminister und politische Berater zurückgetreten, zudem haben sich Fraktionsmitglieder auf Twitter gemeldet, um dem Premierminister ihr Misstrauen auszusprechen.

Boris Johnson zeigt sich von seiner kämpferischen Seite

Am Mittwoch (6. Juli) Nachmittag hielt Sajid Javid eine vernichtende Rücktrittsrede. „Das Problem beginnt ganz oben“, sagte er, und er beschuldigte die Regierung, „Wahrheit und Integrität“ vermissen zu lassen. „Irgendwann müssen wir alle zur Einsicht kommen, dass es reicht“, sagte er. „Ich glaube, dieser Zeitpunkt ist jetzt."

Boris Johnson hat reagiert, wie man es von ihm gewöhnt ist. Schnurstraks hat er sich daran gemacht, die vakanten Posten zu besetzen, er hat Nadhim Zahawi zum Finanzminister und Steve Barclay zum Gesundheitsminister ernannt. Weitermachen, als sei nichts geschehen – das scheint das Motto des Premierministers.

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So hielt er es auch an der wöchentlichen Fragestunde im Unterhaus. Johnson versuchte seine kämpferische Seite zu zeigen. Er ging die Opposition aggressiv an, sprach etwas zusammenhangslos vom Brexit, von seiner Unterstützung für die Ukraine, und vom früheren Labour-Vorsitzenden Jeremy Corbyn, obwohl dieser seit über zwei Jahren nicht mehr Oppositionschef ist. Es schien, er wolle seinen Kollegen noch einmal die größten Hits in Erinnerung rufen.

Skandale haben Johnsons Ansehen geschadet

„Es ist meine Pflicht, das Land durch schwierige Zeiten zu führen, und das werde ich tun”, sagte er. Aber damit löste er auf den eigenen Bänken kaum Begeisterung aus. „Glaubt der Premierminister, dass es Umstände gibt, unter denen er zurücktreten sollte?“, fragte ein Abgeordneter spitz – es war kein Oppositioneller, sondern einer von Johnsons eigenen Parteikollegen. Eine halbe Stunde später hatte der nächste Staatminister seinen Rücktritt bekannt gegeben, die Welle der Resignationen rollte weiter.

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Dass er in einer prekären Situation ist, das weiß auch Johnson. Unmittelbarer Auslöser der Regierungskrise ist ein weiterer Skandal, der den Premierminister in die Ecke gedrängt hatte: Johnson hat einen Tory-Abgeordneten befördert, obwohl er wusste, dass ihm sexuelle Übergriffe vorgeworfen wurden. Zunächst hatte Johnson alles abgestritten, musste schließlich aber zugeben, dass er einen Fehler gemacht hatte.

Aber dies ist nur der jüngste Skandal, der die politische Energie in Westminster in den vergangenen Monaten aufgesogen hat. Insbesondere die Party-Affäre, die sich seit Dezember hinzieht, hat dem Ansehen des Premierministers geschadet.

41 Prozent der Fraktion hat Johnson das Misstrauen ausgesprochen

Seine Fraktion ist zunehmend zur Einsicht gekommen, dass Johnson sein Image als Skandal- und Lügenpremier nicht mehr loswerden kann. Ende Juni folgten zwei bittere Wahlniederlagen, bei denen die Tories je einen Sitz an die Liberaldemokraten und an die Labour-Partei verlor – ein Hinweis darauf, dass die Johnson mittlerweile eine Eisenkugel am Fuß der Partei hängt.

Boris Johnson verlässt die 10 Downing Street.
Boris Johnson verlässt die 10 Downing Street. © Frank Augstein/AP/dpa

Das hat die Fraktion zunehmend gegen ihren Chef aufgebracht. In einer Abstimmung Anfang Juni haben 41 Prozent seiner Fraktion Johnson das Misstrauen ausgesprochen. Seit der Demission von Sunak und Javid am Dienstag (5. Juli) fallen die Unterstützer massenweise von ihm ab, darunter auch Leute, die noch vor wenigen Tagen in der Öffentlichkeit in Schutz genommen hatten.

„Integrität sollte immer zuerst kommen“, schreibt der Abgeordnete Lee Anderson, „und dies war in den vergangenen Tagen leider nicht mehr der Fall.“ Eine neue Umfrage von Anfang dieser Woche ergibt, dass eine wachsende Mehrheit der Bevölkerung es genauso sieht: Fast 70 Prozent der Briten wollen, dass Johnson als Premierminister abtritt.

Johnson denkt nicht einmal an einen Rücktritt

Wenn es von allen Seiten solch vernichtende Kritik hagelt, wären alle anderen Regierungschefs resigniert zur Einsicht gekommen, dass die Zeit wohl um ist. Aber nicht Boris Johnson. Wie eine Klette hängt er in der Downing Street fest, jeder Gedanke an einen Rücktritt scheint ihm fern zu liegen. „Sie werden einen Flammenwerfer brauchen, um mich hier rauszubekommen“, soll Johnson im Juni über seine Kritiker gesagt haben.

Dass er sich im Regierungssitz so verzweifelt festkrallt, liegt auch an seinem überbordenden Selbstbewusstsein: Er sei fest überzeugt, dass er für diesen Posten gemacht ist, sagt seine Biografin Sonia Purnell, die ihn seit dreißig Jahren kennt. „Eine Resignation setzt eine gewisse Demut voraus, eine Selbstaufopferung, ein Eingeständnis der Schuld oder des Versagens“, sagte Purnell am Mittowoch in der BBC.

„Aber das ist etwas, zu dem er praktisch unfähig ist.“ Ihr Urteil ist vernichtend: Während das Land mit Krisen an allen Ecken kämpft, vom überlasteten Gesundheitssystem bis zur tiefen Krise der Lebenshaltungskosten, sei der Premierminister „99.9 Prozent der Zeit damit beschäftigt, Strategien auszuarbeiten, wie er Premierminister bleiben kann.“

Ein weiteres Misstrauensvotum ist möglich

Das ist ihm bislang immer wieder gelungen. Schon oft ist sein Ende prophezeit worden, aber am Ende konnte er seinen Kopf doch noch aus der Schlinge ziehen. Diesmal könnte es allerdings anders sein. Nicht nur die Flut der Resignationen bringen sein Ende näher, die britischen Medien berichten zudem, dass im Hintergrund die Fäden gezogen werden, um Johnson gegen seinen Willen aus dem Amt zu drängen.

Eine Möglichkeit wäre eine zweite Vertrauensabstimmung. Nächste Woche finden die Wahlen fürs 1922-Hinterbänkler-Komitee statt – der einflussreiche Ausschuss, der die parteiinternen Vorgänge regelt. Wenn Johnson-kritische Kandidaten gewinnen sollten, könnten sie die Regeln zu Vertrauensabstimmungen so ändern, dass bald wieder ein Misstrauensvotum gegen den Premierminister möglich ist.

Johnson könnte ein Ultimatum gestellt werden

Nach derzeitigen Regeln darf eine solche Abstimmung nur ein Mal pro Jahr abgehalten werden; nachdem ihm seine Fraktion Anfang Juni das Vertrauen ausgesprochen hat, würde Johnson also bis im nächsten Sommer sicher im Sattel sitzen. Eine Regeländerung würde es seinen Kritikern erlauben, den Premierminister doch noch auf diesem Weg loszuwerden – und diesmal würde mit Sicherheit eine Mehrheit der Tory-Abgeordneten gegen ihn stimmen.

Eine andere Option ist, dass ihm die Hinterbänkler ein Ultimatum stellen: Sollte eine Mehrheit der Fraktion Misstrauensbriefe einreichen, hätten sie ein handfestes Druckmittel, um Johnson den Rücktritt nahezulegen.

Dieser Artikel erschien zuerst auf waz.de.