Berlin. Nach einer Kette von Lügen und Skandalen hilft nur ein Rücktritt des britischen Premiers. Das Land braucht eine moralische Reinigung.

War es das für Boris Johnson? Wenn die Standards für politische Moral nicht völlig verlottert sind, kann die Antwort nur lauten: Ja. Der spektakuläre Rücktritt von zwei wichtigen Ministern und Spitzenbeamten wegen „unethischem Handeln und Führungsversagen“ ist nur der letzte Anlass. Kein Politiker des Westens hat eine derartige Bilanz an Machtversessenheit und Machtvergessenheit vorgelegt wie der britische Premierminister.

Michael Backfisch, Politik-Korrespondent.
Michael Backfisch, Politik-Korrespondent. © Reto Klar | Reto Klar

Zugespitzt formuliert: Boris Johnson ist in dieser Hinsicht wie der ehemalige US-Präsident Donald Trump – nur auf den ersten Blick sympathischer. Der Brite hat nicht die polarisierende Bitterkeit und das bulldozerhafte Auftreten wie der Amerikaner. Seine politische Filouhaftigkeit und sein augenzwinkernder Humor haben ihn bisher geschützt.

Sex-Skandal: Johnson stritt erst alles ab, bis er per Salami-Taktik zurückruderte

Dabei hat Johnson eine Kette von Lügen, Skandalen und Affären angesammelt, die für drei Rücktritte reicht. Im Februar hatte er den Abgeordneten Chris Pincher in ein wichtiges Fraktionsamt der Konservativen Partei gehievt, obwohl er bereits 2019 über dessen Eskapaden sexueller Belästigung informiert worden war. Johnson stritt erst alles ab, drehte eine Lügen-Pirouette, bis er per Salami-Taktik zurückruderte.

Auch beim „Partygate“ trat der Premier die Wahrheit mit Füßen. Mitten in der Corona-Pandemie, in der er seinen Bürgern große Opfer abverlangte, war Johnson bei Festen in 10 Downing Street und förderte eine Hoch-die-Tassen-Mentalität. Abstandsgebot? Maskenpflicht? Nicht in den heiligen Hallen des Regierungssitzes.

Bei ähnlichem Finanzgebaren ist schon einmal ein Bundespräsident zurückgetreten

Wegen der Teilnahme an einer der illegalen Lockdown-Feiern musste er persönlich eine Geldstrafe zahlen. Er übernehme dafür die „volle Verantwortung“, tönte Johnson danach – und blieb dennoch im Amt. Selten klafften Worte und Taten derart auseinander.

Auch in finanzieller Hinsicht ließ der Premierminister Fünfe gerade sein. Die Luxus-Renovierung seiner Dienstwohnung ließ er sich aus Kassen der Tories bezahlen. Das hat mehr als nur ein Gschmäckle. In Deutschland ist bei ähnlichem Finanzgebaren schon einmal ein Bundespräsident, Christian Wulff, zurückgetreten.

„Die Tories müssten mich schon mit Flammenwerfern aus dem Amt drängen“

Reicht das Sündenregister, damit Johnson seinen Hut nimmt? Wächst sich der anschwellende Unmut bei den Konservativen zu einem Polit-Tsunami oder gar zu einem weiteren Misstrauensvotum aus, dem sich der Premier am Ende beugen muss?

Johnsons Einsicht ist sehr begrenzt. Er scheint auf seine Aussitz-Qualitäten zu setzen, die ihn bisher über die Zeit gerettet haben. Die Tories müssten ihn schon mit „Flammenwerfern“ aus dem Amt drängen, ließ er Anfang Juni noch flapsig verlauten.

London spielt bei der Positionierung des Westens eine Schlüsselrolle

Dabei bräuchte Großbritannien nichts dringender als eine ethische Reinigung. Das Land ist zu wichtig in einer Weltlage, bei der wir nicht wissen, was die „Zeitenwende“ noch bringt. Im Ukraine-Krieg, in der Positionierung des Westens gegenüber Russland und China spielt das Vereinigte Königreich eine Schlüsselrolle. Das hat der G7-Gipfel im bayerischen Elmau gezeigt – das trifft auch auf das Spitzentreffen der G20 in Indonesien im November zu.

Der Brexit ist Vergangenheit, auch wenn Johnson mit seinem fahrlässig-populistischen Kurs hier einen unrühmlichen Part gespielt hat. Den Austritt aus der EU wird auch die Labour-Opposition nicht rückgängig machen, wie Parteichef Keir Starmer gerade hervorgehoben hat.

Eine moralische Generalüberholung ist im Interesse Großbritanniens – und der EU

Umso bedeutender sind die Einheit und Geschlossenheit des Westens in zentralen Fragen der Geopolitik. Die Regierung in London darf nicht im Strudel politischer Führungslosigkeit versinken. Eine moralische Generalüberholung und eine sich daran anschließende Neuaufstellung sind im Interesse Großbritanniens – und der EU.

Dieser Artikel erschien zuerst auf waz.de.