Berlin. „Bevor es zu spät ist“ heißt das neue Buch von Karl Lauterbach. Der Gesundheitsminister erklärt, was alles nach Corona kommen kann.

  • Karl Lauterbach hat ein Buch geschrieben
  • Es heißt „Bevor es zu spät ist“ und ist 288 Seiten lang
  • Lesen Sie hier, vor welchem Szenario der Gesundheitsminister nach Corona warnt

Hat der Mann so wenig zu tun, dass er jetzt auch noch Bücher schreibt? Der Eindruck drängt sich auf - aber ganz so ist es nicht: Gesundheitsminister Karl Lauterbach muss sich zwar seit längerem anhören, dass er zu viel Zeit in Talkshows verbringe, doch den Vorwurf, er würde als Minister auch noch den eifrigen Buchautor geben, zieht nicht: Lauterbachs neues Buch klingt nach einem typischen Lauterbach-Appell, ist aber vor seiner Zeit als Minister entstanden. „Bevor es zu spät ist. Was uns droht, wenn die Politik nicht mit der Wissenschaft Schritt hält“ heißt der 288-Seiten starke Alarmruf. Er erscheint am 28. Februar, gleichzeitig mit dem neuen Bericht des Weltklimarats IPCC.

Lauterbach hat im Grunde ein Buch über sich selbst geschrieben. Über die enge Verbindung zwischen Forschung und Politik. Sein Idealbild: Nachts liest der Epidemiologe mit Harvard-Abschluss die neuesten Studien zu Impfstoffen oder Virusvarianten, tagsüber setzt er als SPD-Minister um, was sich umsetzen lässt. Dass es im politischen Alltag meistens dann doch anders läuft, weil die reine Lehre selten auf klare Mehrheiten und grenzenlose Budgets trifft, weiß Lauterbach aus jahrzehntelanger Erfahrung im Politikbetrieb. Doch es geht hier nicht nur um Politik: Der 59-Jährige erzählt auch Persönliches, zum Beispiel wie er als 13-Jähriger beinahe sein Bein verloren hätte, weil die Ärzte fälschlicherweise Krebs diagnostiziert hatten.

Lauterbach ist beides - Spezialist und Talkshow-Star

Ein Vorabdruck des Buchs erschien pikanterweise in der Bild-Zeitung, ausgerechnet jenem Medium, dem der Minister gerade noch vorgehalten hatte, eine Kampagne gegen ihn zu fahren und Unwahrheiten zu verbreiten. Überraschend ist das nicht. Lauterbach versucht seit langem, beides gleichzeitig zu sein: Politiker und Wissenschaftler, Kritiker und Profiteur der Bild-Zeitung, epidemiologischer Spezialist und Talkshow-Star.

Karl Lauterbach und Lothar Wieler mahnen weiter zur Vorsicht.
Karl Lauterbach und Lothar Wieler mahnen weiter zur Vorsicht. © dpa

Das Buch passt dazu. Im Kern ist es eine harsche Politikschelte – von einem, der seit Jahrzehnten Politik betreibt: „Die Wissenschaft hat die Fakten längst auf den Tisch gelegt. Dennoch handeln wir nicht ansatzweise konsequent genug – trotz besseren Wissens.“ Warum schaffe es die Politik nicht, „in Deutschland wie anderswo, die wissenschaftlichen Erkenntnisse rechtzeitig in Handeln umzusetzen?“, fragt der Autor und kokettiert mit seiner Rolle als Mahner und Warner: „Auch wenn mich viele wieder eine Kassandra nennen mögen, muss ich dieses Buch doch mit einer ehrlichen und schmerzlichen Einschätzung beginnen: Ich bin mehr als skeptisch, ob wir die anstehenden Herausforderungen überhaupt noch in der uns zur Verfügung stehenden Zeit bewältigen können.“ So kennt man ihn. Lauterbach, der Schrecken aller blauäugigen Träumer.

Der Minister ist kein Gute-Laune-Politiker - im Gegenteil

Inzwischen ist Kassandra zum Minister aufgestiegen – bleibt aber der alten Linie treu. Trotz seiner rheinischen Herkunft ist Lauterbach kein Gute-Laune-Politiker, kein Berufsoptimist. Im Gegenteil. Wer ihm zuhört, kann schnell den Eindruck gewinnen, dass die guten Tage endgültig vorbei sind, dass nur Naivlinge noch an bessere Zeiten glauben.

Die Welt sei durch das Auftreten von Sars-Cov-2 schlechter geworden, und zwar für Generationen, ist er überzeugt. Und das ist noch längst nicht alles. „Die Einschränkungen zur Bekämpfung der Pandemie, unter denen wir alle so gelitten haben, waren geringfügig und zeitlich sehr begrenzt im Gegensatz zu dem, was wir in der Klimakrise erwarten müssen“, schreibt Lauterbach. Der Klimawandel werde „sogar noch viele solcher Pandemien mit sich bringen“.

Niemand weiß, welche Viren in den Permafrostböden lauern

Lauterbachs Sorge ist, dass mit dem Klimawandel nicht nur die Klimazonen verschieben. Auch die Erreger und ihre Überträger wanderten immer weiter. „Zu beobachten ist, dass es in Europa schon deutlich mehr Infektionen gibt, die auf Würmer, Zecken oder Mücken zurückgeführt werden können.“ Auch auf andere Weise tauchten aufgrund der globalen Erwärmung längst bekannte Erreger wieder auf – zum Beispiel weil sie vom tauenden Permafrostboden freigesetzt werden.

Lauterbach schreibt über Forscher, die vor einigen Jahren das Erbgut der extrem tödlichen Spanischen Grippe entziffert und zu einem funktionstüchtigen Virus zusammengesetzt hatten. Sie hätten es im Lungengewebe eines Toten gefunden, der nach dem Ersten Weltkrieg an der Spanischen Grippe gestorben und im Permafrost Alaskas bestattet worden war. „Ohne Zweifel liegen in sibirischen Permafrostgräbern auch Tote, die an den Pocken gestorben sind.“ Auch wenn die Pocken mittlerweile durch Impfung ausgerottet sind, finde sich dort noch mit großer Wahrscheinlichkeit ihr intaktes Erbgut. Mehr noch: „Forscher warnen davor, dass im Zuge der Klimakrise völlig unbekannte Erreger aus vorzeitlichen sibirischen Tier- oder Menschenpopulationen dem schmelzenden Permafrost entweichen könnten, auf die wir in keiner Weise vorbereitet sind.“

Am 28. Februar erscheint Karl Lauterbachs neues Buch unter dem Titel „Bevor es zu spät ist“.
Am 28. Februar erscheint Karl Lauterbachs neues Buch unter dem Titel „Bevor es zu spät ist“. © dpa | Kay Nietfeld

Lauterbach: Experten rechnen mit knapp zwei Millionen unbekannten Viren

Der Weltbiodiversitätsrat gehe zudem von schätzungsweise 1,7 Millionen bisher unbekannten Viren aus, die auf Säugetieren und Vögeln lebten. 800.000 davon könnten potenziell auch den Menschen infizieren. „Wann die neuen Viren letztlich auf den Menschen überspringen, ist einfach eine Frage der Statistik.“

Ja, er sei pessimistisch, schreibt Lauterbach. Als Wissenschaftler könne er einschätzen, was auf uns zukomme. Aber: „Als Politiker weiß ich, wie mühselig es ist, im politischen Alltagsgeschäft mit so grundlegenden Fragen durchzudringen und immer nur kleine Änderungen zu erreichen.“

Buch entstand nach Klimadebatte mit der 14-jährigen Tochter

Auslöser für das Buch seien die Gespräche mit seiner vierzehnjährigen Tochter über die Schulstreiks für Fridays for Future gewesen. „Wie absurd ist es eigentlich, dass wir über das Ende ihrer Zukunft spekulieren, während draußen vor der Wohnung die SUVs einparken, als ob nichts wäre?“, fragt sich der fünffache Vater. Die deutsche Alltagswelt sei wie eine Parallelwelt zu derjenigen, die von der Klimaforschung beschrieben werde. „Das verstehen Kinder und Jugendliche offenbar besser als wir Erwachsenen.“