Berlin.

Das kann nicht Andrea Nahles sein, die dort vorne am Pult vor der roten Wand mit dem stolzen SPD-Logo steht. Grabesstimme statt schriller So­pran, Durchhalteparolen statt Attacke. Immer wenn es eng wurde in ihrer langen Karriere, packte die 48 Jahre alte Tochter eines Maurers an. Mit „Bätschi“, Pippi-Langstrumpf-Singen im Bundestag und unglaublich viel Energie knöpfte sich Nahles den politischen Gegner vor, setzte als Arbeitsministerin Dutzende Gesetze durch und peitschte fast im Alleingang ihre Genossen in die große Koalition. Ihr großes Kämpferherz schlägt, zumindest an diesem Montag scheint das so, nicht mehr so laut, wie man es von ihr gewohnt ist.

SPD zahlt für den Eintritt in die Koalition hohen Preis

Die Wut, die ihr aus der Partei nach den handwerklichen Fehlern im Fall Maaßen entgegenschlug, überrumpelte Nahles. Und nun Bayern. Schockstarre und Ratlosigkeit sind aus Nahles’ Gesicht abzulesen. Es spiegelt den Zustand der gesamten Partei wider. 9,7 Prozent im Freistaat, so tief ist die SPD noch nie bei einer Landtagswahl gesunken. Im Bund sind es um die 15 Prozent. Man kann gerade live dabei zusehen, wie eine Volkspartei abstürzt. Selbst Unionspolitiker sind erschrocken, was da mit dem Koalitionspartner passiert. Die Angst schwingt mit, dass es der republikweit auf 26 Prozent abgerutschten Union in nicht allzuferner Zeit ähnlich ergehen kann. Und dass bei einem abrupten Ausstieg der SPD aus der Koalition mit einem Schlag die Ära Merkel unkontrolliert zu Ende sein könnte. Grünen-Chef Robert Habeck, der die SPD als Volkspartei ablösen will und dabei in Bayern einen großen Schritt nach vorne machte, analysierte zutreffend: „Die SPD ist in einer schwierigen Situation, für die sie vielleicht gar nichts kann.“ Die Sozialdemokraten ließen sich nach dem Scheitern der Jamaika-Koalitionsgespräche von Union, Grünen und FDP in die Pflicht nehmen – nun bezahlen sie einen hohen Preis. Wie hoch der für Nahles ausfällt, wird sich nach Hessen zeigen.

Neben der erstarrten Vorsitzenden steht an diesem Vormittag Natascha Kohnen, die Spitzenkandidatin und Landeschefin aus Bayern. Zur Verwunderung vieler Beobachter trat sie am Wahlabend nicht zurück, aber vielleicht dachte sich Kohnen, was Seehofer kann, kann ich auch. Kohnen war in der Affäre um den geschassten Verfassungsschutzpräsidenten Maaßen schärfste Kritikerin von Nahles. Sie pfiff auf Ratschläge aus Berlin.

Ihre Kampagne „Kohnen plus“ war vor allem auf Wohnen und Mieten ausgerichtet. Sie ging grandios schief. Schuld daran seien die große Koalition und deren Unruhestifter Horst Seehofer. Der Vertrauensverlust in die Berliner Politik habe brutal auf die SPD ausgestrahlt: „Die Menschen sind uns mit unglaublich großer Distanz begegnet“, erzählt sie. Die Wähler kauften der SPD nicht mehr ab, was sie verspreche. Für eine „Volkspartei“ ist das fast schon ein Offenbarungseid. Dass Kohnen recht hat, belegen Analysen der Landtagswahl. Soziale Gerechtigkeit, Wohnungsbau, Familienpolitik, Bildung – die Kompetenzwerte der SPD sind ins Bodenlose gestürzt. In Bayern liefen die Wähler selbst auf niedrigem Niveau in Scharen und in allen Bevölkerungsgruppen davon. 200.000 Stimmen verlor die SPD an die Grünen, 100.000 an die CSU, 70.000 an die Freien Wähler und 30.000 an die AfD.

Schon zittern sie bei den Sozialdemokraten, dass der Abwärtssog in Hessen durchschlagen könnte, wo am übernächsten Sonntag gewählt wird. Dort scheint die Ausgangslage günstiger zu sein. In Bayern war die SPD immer schwach und nie in der Regierung, Hessen gilt als Stammland, auch wenn die CDU seit fast 20 Jahren regiert.

SPD-Spitzenkandidat Thorsten Schäfer-Gümbel schlägt sich bislang recht gut, auch wenn er nicht unbedingt als Schwergewicht gilt. 23 bis 25 Prozent brachte er bislang auf die Wählerwaage – allerdings vor dem Bayern-Knock-out. TSG, wie er genannt wird, ist der ewige Herausforderer. Es ist sein dritter Versuch, die Staatskanzlei in Wiesbaden von der CDU zurückzuerobern. Nahles klammert sich an dieses Ziel wie an einen Rettungsring. In Hessen regiere ein amtsmüder Ministerpräsident Volker Bouffier, mit den Themen bezahlbares Wohnen, Mobilität, Zukunft der Arbeit werde die SPD punkten, hofft Nahles. Kann diese Rechnung aufgehen?

Dieser Mix war den bayerischen Wählern zu wenig. In Großstädten wie München und Nürnberg, die von SPD-Oberbürgermeistern regiert werden, zogen die Grünen an den Genossen im Eiltempo vorbei. In der Landeshauptstadt erreichten die Grünen 30 Prozent, die SPD 13. Wahlkämpfer berichten, angesichts der blamablen Diesel-Lösung in der Koalition und dem von Nahles vorgegebenen Festhalten an der Braunkohle habe man der Ökopartei nichts entgegensetzen können.

Aber was passiert, wenn die Grünen ihren Lauf in Hessen fortsetzen und die SPD als zweite Kraft verdrängen? „Wenn wir da wieder keinen Regierungswechsel hinkriegen, wird es eng“, sagt ein Spitzengenosse. Eng für Nahles. Dann wackelt ihr Vorsitz. Dann wackelt die GroKo. Fast noch größer als der Frust über Nahles, der selbst Kritiker bescheinigen, alles Menschenmögliche zur Rettung der SPD zu unternehmen, ist die Ablehnung, die Olaf Scholz in weiten Teilen der Partei entgegenschlägt. Der Finanzminister und Vizekanzler bestätigt gerade alle Vorurteile, die seit Jahren über ihn kursieren.

Beim Erklären der Wahlniederlage ließ er Nahles und Generalsekretär Lars Klingbeil im Regen stehen. Er schwänzte am Sonntag die Sitzungen in der Parteizentrale. Dabei hatte er seine überstürzte Abreise vom Treffen des Weltwirtschaftsforums im indonesischen Bali – Scholz buchte nach einem Defekt an der Regierungsmaschine für sich und seine Entourage Linienflüge, während viele Beamte und Bundesbankpräsident Jens Weidmann ohne jede Information zurückblieben – damit begründet, dass er zur Wahlanalyse in Berlin sein müsse. Scholz hält sich seit jeher für den besten Vorsitzenden und Kanzlerkandidaten, den die SPD haben könne. Stürzt Nahles, könnte auch der frühere Hamburger Bürgermeister mitgerissen werden. Hoch im Kurs, um notfalls die SPD zu führen, stehen die erfolgreichen Ministerpräsidenten Manuela Schwesig, Stephan Weil und Malu Dreyer. Aber vielleicht ist die Existenzkrise der Partei bereits so tief, dass neue Köpfe nichts mehr bewirken.

Bis Hessen soll keine Panik ausbrechen. Die Parteilinke unter Führung von Juso-Chef Kevin Kühnert hat einen linken Gegenentwurf zum soliden Weiter-So von Nahles und Scholz erarbeitet. Schluss mit dem „Fetisch“ schwarze Null, höhere Steuern, weg mit Hartz IV. „Wer versucht, es allen recht zu machen, wird es niemanden recht machen“, heißt es. Nach der Hessen-Wahl wird abgerechnet.

Thomas Kutschaty sieht die Lage brutal nüchtern. Der mächtige Fraktionschef im Düsseldorfer Landtag war von Anfang an gegen die GroKo. Die SPD gehe in Berlin „bis zur Gesichtslosigkeit Kompromisse ein“, bestes Beispiel sei der Diesel-Deal, über den die Autokonzerne sich kaputtlachten. „Die Bürger wissen gar nicht mehr, wofür die SPD steht“, sagte Kutschaty unserer Redaktion. Nur „SPD pur“ mit einem starken Sozialstaat könne die ramponierte Marke noch retten. „Stand heute gibt es in der SPD keine Mehrheit mehr für die große Koalition“, prophezeit Kutschaty. „Andrea Nahles und Olaf Scholz müssen sich anstrengen, das zu drehen.“