Moskau/Berlin.

Am Anfang schien es wie der Stoff aus einem Spionage-Roman von John Le Carré. Kriminelle Energie, finstere Tötungstechnik, politisches Propaganda-Feuerwerk: alles drin. Nachdem der frühere russische Doppel-Agent Sergej Skripal und seine Tochter Julia am 4. März bewusstlos auf einer Parkbank der südenglischen Kleinstadt Salisbury aufgefunden worden waren, war die britische Politik mit Vorwürfen schnell bei der Hand. Die beiden seien mit dem in der Sowjetunion entwickelten Nervengift Nowitschok schwer verletzt worden, lautete die Anklage. Die Urheber säßen in Moskau. Später hieß es, Präsident Wladimir Putin selbst habe den Auftrag gegeben. Im Kreml wurden die Anschuldigungen ins Lächerliche gezogen.

Nun scheint sich der Ring an Fakten und Indizien immer stärker Richtung Russland zu richten – und gegen Putin. Die britische Recherche-Plattform Bellingcat und die russische Internet-Zeitung „The Insider“ veröffentlichten den Namen des zweiten Tatverdächtigen im Fall Skripal: Bei dem mutmaßlichen Nervengift-Attentäter, der im März unter dem Namen Alexander Petrow nach Großbritannien einreiste, handelt es sich demnach um Dr. Alexander Mischkin, einen Offizier des russischen Militärgeheimdienstes GRU.

Putin verlieh angeblich beiden den Orden „Held Russlands“

Laut Bellingcat wurde er an der Kirow-Militär-Akademie in Sankt Petersburg zum Arzt der Kriegsmarine ausgebildet und erhielt zwischen 2007 und 2010 in Moskau eine zweite Identität als Alexander Petrow. Er bereiste danach eifrig das Ausland, wie sein mutmaßlicher Komplize, der GRU-Mann Anatoli Tschepiga alias Ruslan Boschirow. Und wie er soll Mischkin von Wladimir Putin persönlich als „Held Russlands“ ausgezeichnet worden sein, vermutlich für Einsätze bei der Evakuierung des 2014 gestürzten ukrainischen Staatschefs Viktor Janukowitsch und während der nachfolgenden Annexion der Krim.

Bellingcat veröffentlichte auch mehrere Passfotos Mischkins, die Petrows Überwachungskamera-Aufnahmen am Tatort sowie den Bildern im russischen Fernsehen stark ähneln.

Es war ausgerechnet Putin, der Bellingcat am 12. September die mutmaßlichen Skripal-Attentäter präsentierte – quasi auf dem Silbertablett: Die beiden Männer seien Privatleute, hatte der Präsident nach Veröffentlichung der Videobilder aus Salisbury behauptet und sie aufgefordert, sich zu melden. Einen Tag später wurde das Duo beim TV-Sender RT vorstellig. In dem Interview inszenierten sich die Männer als kulturinteressiertes Touristenpaar mit leicht homophilem Einschlag. Für Bellingcat eine einmalige Chance: Die Investigativen nutzten die Nahaufnahmen der Fernsehkameras für Scans zur professionellen Gesichtserkennung. Experten halten die Ergebnisse für wasserdicht. „Ich würde nicht eine Sekunde daran zweifeln“, sagt Marcus Bensmann, Investigativ-Reporter mit Russland-Expertise vom Recherchebüro Correctiv.

Die Fragen an Putin werden immer bohrender. Warum machten Petrow und Boschirow bei einer nur dreitägigen London-Reise ausgerechnet einen Abstecher nach Salisbury – und das zweimal? Am 3. März fuhren die beiden nach Salisbury, doch das Wetter war schlecht. Sie kehrten nach London zurück. Einen Tag darauf schien die Sonne. Sie reisten erneut nach Salisbury, um „die Sache zu vollenden“, wie es Petrow formulierte. Aber warum hatten sie zwei Rückflug-Tickets nach Moskau gebucht?

Die Recherchegruppe Bellingcat wurde vor allem mit Veröffentlichungen zum Abschuss der malaysischen Boeing MH 17 über dem Kriegsgebiet im ostukrainischen Donbass 2014 bekannt. Damals entdeckte Bellingcat im Internet als erster Fotos des Buk-Raketenwerfers, der nach Ansicht der Internetjournalisten das Passagierflugzeug vom Himmel holte und vorher aus Russland herangeschafft worden war. Eine internationale Ermittler-Gruppe unter Leitung der niederländischen Staatsanwaltschaft bestätigte diese Version.

Ein ehemaliger Offizier der Moskauer Polizei sagte unserer Redaktion, es bestehe kein Zweifel, dass Tschepiga und Mischkin mit Boschirow und Petrow identisch seien. „Allerdings ist damit noch nicht bewiesen, dass sie das Nervengift wirklich auf der Türklinke am Haus des russischen Ex-Geheimagenten platziert haben.“ Sie seien an der Tat beteiligt gewesen, aber vielleicht in einer anderen Funktion. Für Bellingcat ist der Fall dagegen völlig klar. Die britische Recherche-Plattform verweist auf die Ansicht mehrerer Experten, Doktor Mischkins Einsatz sei kein Zufall: „Ein Arzt im Team ist zwingend notwendig, wenn es gilt, das Zielobjekt zu vergiften.“