Birmingham/London.

Nur kein Fiasko wie im vergangenen Jahr. Das hat sich Theresa May wohl gedacht, bevor sie in die Konferenzhalle ging. Denn auf dem letzten Parteitag der britischen Konservativen im Jahr zuvor ging alles schief. Die Premierministerin erlitt bei ihrer Abschlussrede einen Hustenkrampf und konnte kaum weitersprechen. Ein Komödiant reichte ihr ein angeblich vom damaligen Außenminister Boris Johnson aufgesetztes Entlassungsschreiben. Und auf der Konferenzwand hinter ihr fielen die Buchstaben des Parteitagsmottos zu Boden.

Wer so eine Blamage erlebt hat und trotzdem noch im Amt ist, darf als die Stehauffrau des Königreichs gelten. Theresa May ist schon oft abgeschrieben, als Auslaufmodell und sogar als „Zombie-Premierministerin“ bezeichnet worden. Dabei ist sie eine Überlebenskünstlerin. Wenn sie eines nicht macht, dann ist es: aufgeben. Geholfen hat ihr sicherlich, dass es im Grunde keine Alternative zu ihr gibt – keiner ihrer Kollegen will sich wirklich ihren Brexit-Job zumuten. Von Boris Johnson einmal abgesehen, aber der hat nicht genügend Rückhalt in der Unterhausfraktion der Konservativen.

Theresa Mays schiere Zähigkeit hat ihr bei den Delegierten in Birmingham Sympathien eingetragen. Wer trotz aller Anfeindungen und Rückschläge derart unbeirrt und hartnäckig am Kurs festhält, darf auf Respekt, wenn nicht gar auf Wohlwollen an der Basis hoffen.

Dabei hatte die Vorsitzende der Konservativen Partei wieder einmal ein durchaus schwieriges Jahrestreffen zu überstehen. In den drei Tagen zuvor war die Konferenz vom Streit über den richtigen Brexit-Kurs und von Spekulationen über mögliche Nachfolger von May dominiert worden. Auch am Mittwoch gab es schlechte Neuigkeiten für May: Der konservative Abgeordnete James Duddridge verkündete, dass er einen Brief, in dem er May das Vertrauen entzogen habe, an den Vorsitzenden der Hinterbänkler-Kommission geschickt habe. Es braucht nur 48 solcher Briefe, um ein Misstrauensvotum innerhalb der konservativen Fraktion auszulösen.

May machte gute Miene zum bösen Spiel. Sie wusste, dass es jetzt ihr Job als Parteivorsitzende war, das Thema zu wechseln, den Blick nach vorn zu richten und die Parteimoral zu heben. Bei ihrer Abschlussrede auf dem Parteitag in Birmingham versuchte May am Mittwoch einen positiven Ton zu setzen. Und zum Beweis, wie gelassen und fröhlich sie war, schritt sie auf die Bühne und tanzte ein paar Takte zu den Klängen des Abba-Songs „Dancing Queen“ – zur völligen Überraschung des Saals, der aber gut gelaunt mitklatschte.

Sie beschwor die Notwendigkeit, eine gemeinsame Position zu unterstützen: „Wenn wir zusammenkommen, dann gibt es keine Grenzen für das, was wir erreichen können.“ Schließlich sei man immer eine Partei gewesen, die „für eine Politik gestanden hat, die vereint, statt uns zu teilen“. Die Premierministerin weiß, dass nichts so sehr zusammenschweißt wie ein gemeinsamer Gegner. So beschwor sie das Horror-Szenario, das das Land heimsuchen würde, sollte der Labour-Chef Jeremy Corbyn an die Macht kommen. „Labour hat“, rief May, „gemeinsame politische Werte abgelehnt“ und würde „eine desaströse“ Politik der Re-Nationalisierung der Bahn verfolgen.

Ziemlich schnell schnitt May das Thema an, das wie kein anderes zur Uneinigkeit in ihrer Partei geführt hat: den Austritt aus der Europäischen Union. Ja, sagte May, auf diesem Parteitag sei eine Reihe von verschiedenen Ansichten zum Brexit geäußert worden. Sie stehe aber zu ihrem Kurs: einen Freihandelsvertrag auszuhandeln, der die Versprechen des Referendums vom Juni 2016 erfüllen würde. Es gehe darum, die Kontrolle über Geld, Gesetze und Grenzen wieder zurückzugewinnen. „Niemand will einen guten Deal mehr als ich“, sagte sie. „Aber Großbritannien hat keine Angst vor einem ‚No Deal‘, wenn es sein muss.“

Sie sei sich sicher, dass in diesem Fall die Widerstandsfähigkeit und Unverwüstlichkeit der Briten die möglichen chaotischen Konsequenzen überwinden würden. Die EU habe ihr zwei Angebote gemacht, die sie nicht akzeptieren könne. Das eine wäre ein Verbleib im europäischen Wirtschaftsraum, ohne dass Großbritannien ein Mitspracherecht bei der politischen Gestaltung habe. Dies würde eine unkontrollierte Einwanderung und ein Befolgen des EU-Regelkanons bedeuten. Die zweite Offerte sei ein Freihandelsvertrag, bei dem allerdings Nordirland die Regeln des Binnenmarkts weiterhin befolgen müsse. Das liefe praktisch auf eine Annexion von Nordirland hinaus. „Wir werden nicht das Resultat des Referendums verraten“, rief May, „und wir werden niemals unser Land auseinanderbrechen.“ Somit sei ihr Plan der einzig mögliche. Sie appellierte an die Einheit der Partei: „Wenn wir alle in verschiedene Richtungen gehen, um unterschiedliche Versionen eines perfekten Brexits zu verfolgen, riskieren wir, überhaupt keinen Brexit zu bekommen.“ Die Delegierten im Saal schienen den Ernst der Lage zu begreifen. Die minutenlangen Standing Ovations am Ende von Mays Rede demonstrierten, dass die Parteichefin wieder einmal zurück in den Sattel gefunden hat.

Johnson fordert May mit einer mitreißenden Rede heraus

Mays Ex-Außenminister Boris Johnson, der wegen seines Haarschopfs und seiner Neigung zur Intrige auch das „blonde Gift“ genannt wird, hatte am Vortag eine Rede gehalten, die eine glatte Herausforderung für May war. Schon Stunden vor Beginn seines Auftritts bildeten sich lange Schlangen vor Halle 1. Der Saal war dann brechend voll, rund 1400 Delegierte wollten ihn sehen. Es war eine typische Boris-Rede: viele Scherze, viel Pathos, skurrile Metaphern. Inhaltlich sprach er vieles an, von der Wohnraumkrise bis zur Gewaltkriminalität auf britischen Straßen, aber er ging nicht ins Detail. Er zog die patriotische Karte, was die Zuhörer begeisterte, und prügelte auf Labour ein, „die man niemals in die Nähe der Regierung lassen darf“. Den größten Beifall erhielt Johnson, als er „Werft Chequers auf den Müll!“ rief und damit die Brexit-Politik von Theresa May in Grund und Boden verdammte. Der Chequers-Plan sei ein Betrug am Wähler, rief Johnson, stattdessen solle May ein Freihandelsabkommen nach dem Kanada-Vorbild abschließen. Im Saal stieß er damit auf große Zustimmung, und in der vordersten Reihe saßen rund 20 applaudierende Unterhausabgeordnete. Das sollte May Sorgen machen. Denn ihre Mehrheit im Unterhaus ist dünn. Für eine Ablehnung ihres Brexit-Deals würde es nur eine Handvoll Rebellen brauchen.

Es war eine Bewerbungsrede für den Chefposten. Doch Johnsons Chancen, Theresa May zu beerben und demnächst selbst Premierminister zu werden, sind gering. So populär der Blondschopf auch bei der Parteibasis sein mag, so umstritten ist er innerhalb der konservativen Fraktion im Unterhaus. Und das ist sein großes Problem auf dem Weg, Parteivorsitzender und damit Regierungschef zu werden. Die Statuten sehen vor, dass zuerst die Fraktion aus einem weiten Feld von Bewerbern durch eine Reihe von Wahlgängen zwei Kandidaten ermitteln muss. Diese werden dann der Basis in einer Urwahl präsentiert. Die könnte Johnson durchaus gewinnen. Aber er hat zu wenig Rückhalt in der Fraktion. Das ist Johnsons Dilemma.