Berlin/Ankara.

Für Recep Tayyip Erdogan fängt der Staatsbesuch mit einer bitteren Niederlage an. Direkt nach der Landung um 12.36 Uhr auf dem Flughafen Berlin-Tegel, wo die Organisation Reporter ohne Grenzen lautstark demonstriert, fährt der türkische Präsident mit seiner Frau Emine in sein hermetisch abgeriegeltes Luxushotel am Brandenburger Tor. Drei Stunden später wartet der 64-Jährige wie Millionen Fußballfans vor dem Fernseher gebannt darauf, wer den Zuschlag für die Europameisterschaft 2024 erhält: Die Deutschen machen bei der Vergabe in Nyon das Rennen gegen die Türken. Wie stark die schlechte Menschenrechtslage und die Wirtschaftskrise der türkischen Bewerbung letztlich geschadet haben, wissen nur die Entscheider an der Spitze des europäischen Fußballverbandes Uefa.

Im Bundestag jedenfalls haben die meisten Parlamentarier eine klare Erwartungshaltung an den schwierigen Gast vom Bosporus. „Lassen Sie diese Menschen frei, lassen Sie freie Debatte in der Türkei wieder zu!“, ruft am Mittag der FDP-Mann Alexander Graf Lambsdorff unter dem Beifall vieler Abgeordneter.

Viele Redner prangern die Repressalien an, denen Oppositionelle und Journalisten in der Türkei ausgesetzt sind. Wie etwa eine „Spionage-App“ der türkischen Polizei, mit der Kritiker der Regierung und ihres Präsidenten von überall auf der Welt angezeigt werden können.

Der frühere Grünen-Chef Cem Özdemir lässt sich die Chance nicht entgehen, ein paar Worte an Erdogan zu richten. Seit der „anatolische Schwabe“ immer wieder die Politik des türkischen Präsidenten aufs Schärfste kritisiert, kann Özdemir aus Angst vor Anschlägen häufig nicht mehr ohne Polizeischutz auftreten. „Es kommt ein Machthaber eines Landes, in dem es praktisch keine Pressefreiheit mehr gibt, in dem immer mehr Menschen Angst haben, ihre Meinung zu äußern“, kritisiert Özdemir.

Viele Spitzenpolitiker boykottieren Staatsbankett

Der Grüne verteidigt aber seine Teilnahme an einem Staatsbankett für Erdogan, das Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier an diesem Freitagabend im Schloss Bellevue ausrichtet. „Ich möchte gerade durch meine Teilnahme deutlich machen: Hier in der Bundesrepublik Deutschland gehört die Opposition dazu.“ In der Türkei könne Erdogan die Opposition mundtot machen. „In Deutschland nicht, deshalb gehe ich da hin.“ Spitzenpolitiker von FDP, Linken und andere prominente Grüne wollen aus Protest dem Bankett fernbleiben.

Mesale Tolu findet das richtig. Die deutsche Journalistin hatte im August die Türkei verlassen dürfen – nach mehr als 15 Monaten Haft und Ausreisesperre wegen Terrorvorwürfen. „Der Verantwortliche für all die Repressalien wird hier mit rotem Teppich und Staatsbankett akzeptiert und empfangen. Das ist ein sehr unangenehmes Gefühl für alle Betroffenen“, sagte Tolu vor Journalisten in Düsseldorf.

Vor Erdogans Deutschland-Besuch tat sich aber plötzlich etwas. So kam Enis Berberoglu wieder frei. Ein Gericht in Istanbul setzte die Haftstrafe des früheren Journalisten und Oppositionsabgeordneten, der wegen Verrats von Staatsgeheimnissen noch mehr als fünf Jahre absitzen soll, vor einer Woche aus. Auch ein deutscher Staatsbürger, der seit Längerem aus politischen Gründen in der Türkei in Haft saß, wurde jetzt auf Beschluss eines Gerichts auf freien Fuß gesetzt.

Gewiss: Die türkische Justiz sei unabhängig, versichert man in Ankara. Aber vielleicht hat es ja doch einen Fingerzeig von höchster Stelle gegeben? Erdogan wünscht sich einen Neustart in den Beziehungen. „Wichtigstes Ziel meines Deutschland-Besuchs ist es, die Phase der letzten Jahre in unserem Verhältnis komplett hinter uns zu lassen“, sagte Erdogan am vergangenen Sonntag. Diese „Phase“ hatte vor allem Erdogan mit maßlosen Tiraden gegen deutsche und andere europäische Politiker geprägt. Deutschland attestierte Erdogan „überhaupt kein Verhältnis zur Demokratie“, Bundeskanzlerin Angela Merkel warf er „Nazi-Methoden“ vor. Als die niederländische Regierung dem türkischen Außenminister einen Wahlkampfauftritt verweigerte, beschimpfte Erdogan die Holländer als „Nachfahren der Nazis und Faschisten“. Europa sei ein Kontinent, besiedelt von „Nazi-Überbleibseln“. Schon bald werde es dort wieder „Gaskammern“ und „Sammellager“ geben, diesmal für Türken, orakelte Erdogan noch im vergangenen Jahr.

Fast 250.000 Menschen sitzen in türkischen Gefängnissen

Das soll jetzt alles vergessen sein. Bundespräsident Steinmeier geht das ein bisschen zu flott: „Dieser Besuch ist kein Ausdruck von Normalisierung. Davon sind wir weit entfernt. Aber er könnte ein Anfang sein.“ Steinmeier will in seinen Gesprächen mit Erdogan auch die Fälle der in der Türkei inhaftierten deutschen Journalisten zum Thema machen.

Erdogan hat offenbar erkannt: Wenn er die drohende Finanzkrise abwenden will, braucht er gute Beziehungen zu den wichtigsten Wirtschaftspartnern seines Landes. Das sind die Europäische Union und Deutschland als größter Absatzmarkt und wichtigster ausländischer Investor. Viele Türken bringen wegen des Absturzes der türkischen Lira ihr Geld inzwischen in den sicheren Hafen Deutschland. Allein zwischen April und Juni stieg der Kapitalzufluss aus der Türkei nach Deutschland um 4,57 Milliarden Euro, wie aus einer Antwort der Bundesregierung auf eine Anfrage der FDP hervorgeht, die unserer Redaktion vorliegt. „Es spricht einiges dafür, dass sich die Kapitalflucht im dritten Quartal verschärft hat. Darunter dürften viele Privatpersonen sein, die ihr Geld aus Angst vor einem weiteren Lira-Verfall ins Ausland bringen“, sagt der Vizechef der Liberalen im Bundestag, Florian Toncar.

Erdogan macht Sanktionen der USA, die Strafzölle verhängt haben, und die westlichen Finanzmärkte für die Krise und den Lira-Absturz verantwortlich. Im August hatte er seine Landsleute aufgefordert, angesichts des Kursverfalls der Lira Euro und Dollar in die Landeswährung zu tauschen. Die Zahlen belegen, dass vielen Türken ihr Geld näher ist als die Propaganda. Wie Toncar berichtet, versucht die Türkei auch, über eine Sondersteuer auf Bankguthaben in ausländischer Währung sowie mit der Vorgabe an türkische Unternehmen, Exporterlöse, die sie in ausländischer Währung einsammeln, zu mindestens 80 Prozent in türkische Lira umzutauschen, die eigene Währung zu stabilisieren. Das Risiko für deutsche Banken ist überschaubar. Sie haben insgesamt 20,77 Milliarden Euro an Krediten in der Türkei vergeben. Das entspricht weniger als 0,3 Prozent der Bilanzsumme des deutschen Bankensektors.

Experten glauben, dass der türkische Präsident mittelfristig nicht umhinkommen könnte, Hilfe des Internationalen Währungsfonds (IWF) anzunehmen. „Erdogans Strategie in der Finanzkrise ist darauf angelegt, mit seiner AKP die Kommunalwahlen im Frühjahr 2019 zu gewinnen, und bis dahin einen Kotau vor dem Ausland zu vermeiden“, sagt Toncar. Im eigenen Land steuert Erdogan weiter einen harten Kurs gegen politische Widersacher und Kritiker. Seit dem Putschversuch vom Juli 2016 hat der Staatschef per Dekret über 170.000 Staatsbedienstete und Lehrer privater Bildungseinrichtungen entlassen – meist wegen angeblicher Verbindungen zu seinem Erzfeind, dem Exil-Prediger Fethullah Gülen. 2008 gab es in der Türkei 103.296 Strafgefangene und Untersuchungshäftlinge. Heute sind es 246.426.

In einem Gastbeitrag für die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ schreibt Erdogan, er erwarte ein härteres Vorgehen gegen die kurdische Extremisten-Organisation PKK und die Gülen-Bewegung. So könnten sich die „deutschen Freunde“ das „Wohlgefallen des türkischen Volkes“ erwerben.

Am Freitag wird Erdogan von Steinmeier mit militärischen Ehren empfangen, mittags spricht er mit der Kanzlerin. Am Sonnabend sieht der Präsident Merkel bei einem Frühstück noch einmal wieder. Dann fliegt er nach Köln, um Europas größte Moschee zu eröffnen. Die wird von der islamischen Organisation Ditib betrieben, die der türkischen Regierung untersteht. Der Verfassungsschutz prüft gerade, ob er die Ditib-Zentrale beobachten soll.

Die parteilose Kölner Oberbürgermeisterin Henriette Reker will der Zeremonie auf jeden Fall fernbleiben, es sind außerdem mehrere Demonstrationen in der Domstadt angemeldet. Reker kritisiert, dass die Moschee für Erdogans Zwecke instrumentalisiert werde: „Köln wird Herrn Erdogan aushalten, und Herr Erdogan wird auch Köln aushalten müssen.“