Berlin. Die Abwahl von Volker Kauder als Fraktionschef ist eine Niederlage für die Kanzlerin. Drei Szenarien, wie es jetzt weitergehen könnte

    Kerstin Münstermann

    Ralph Brinkhaus lächelte vorsichtig, rückte erst mal seine Krawatte zurecht. „Es ist mir ein besonderes Vergnügen, hier heute zu stehen, weil ich auch ein Kind vom Land bin“, sagte er. „Heimat mit Zukunft“ hieß der Fraktionskongress, auf dem der Finanzpolitiker aus Ostwestfalen seinen ersten Auftritt als neuer starker Mann der Fraktion hatte. Bei der Eröffnungsrede, die er kurzfristig von seinem am Dienstag nach 13 Jahren Amtszeit abgewählten Vorgänger Volker Kauder übernommen hatte, erntete Brinkhaus viel Applaus. Premiere geglückt.

    Der Neue an der Spitze der Unionsfraktion machte sich am Morgen nach seinem spektakulären Wahlsieg erst mal auf den Weg zum Kanzleramt. Er nahm an der üblichen Vorbesprechung der Unionsseite vor der Kabinettssitzung teil. Ein längeres Gespräch mit Merkel sollte im Laufe des Tages folgen, man wollte sich über „politische Schwerpunkte“ der nächsten Wochen austauschen. Am Mittwochmittag bereits versammelte Brinkhaus die Mitarbeiter der Unionsfraktion um sich. Um ihnen sein Motto näherzubringen: „Kontinuität, verbunden mit einem Neuanfang“.

    Brinkhaus muss es gelingen, zwischen dem frischen Wind, den er versprochen hat, und seiner Aussage vom Wahlabend, nachdem er eng mit Merkel zusammenarbeiten will, ein Gleichgewicht zu finden. Unions-Fraktionsvize Carsten Linnemann (CDU) drückte es gegenüber unserer Redaktion so aus: „Die Fraktion muss jetzt die Balance bewahren zwischen Loyalität und Eigenständigkeit.“

    Doch egal, wie oft Brinkhaus betont, dass er die gute Zusammenarbeit mit Merkel fortsetzen will: Seine Wahl löste ein Beben in der CDU aus, das die Kanzlerin angeschlagen zurücklässt. Seine Wahl hat in der Führung der Unionsparteien aufschrecken lassen. Denn nur zwei Tage, nachdem die Parteichefs von CDU, CSU und SPD den Streit um Verfassungsschutzpräsident Hans-Georg Maaßen beigelegt hatten, ging es gleich weiter im Krisenmodus – nach der SPD und der CSU traf es diesmal die CDU. Und die Nachbeben der Abwahl des Merkel-Vertrauten Kauder von der Fraktionsspitze könnten noch eine Reihe von heftigen politischen Folgen haben. Wie geht es jetzt weiter mit Merkels Kanzlerschaft?

    Szenario 1: Merkel bleibt im Amt und die Koalition macht weiter wie bisher

    Merkel selbst sieht nach ihrer Schlappe bei der Wahl zum Unions-Fraktionsvorsitzenden keinen Anlass für eine Vertrauensabstimmung im Bundestag. „Ein ganz klares Nein“, sagte Regierungssprecher Steffen Seibert auf eine entsprechende Frage. Brinkhaus selbst betonte noch am Dienstagabend, dass er hinter der Kanzlerin stehe. „Zwischen die Kanzlerin und mich passt kein Blatt Papier“, sagte er im ZDF. Angesprochen auf die Vertrauensfrage antwortete der neue Fraktionschef: „Blödsinn“. Und sogar offene Bekenner der Kauder-Abwahl betonen, dass die Erneuerung an der Fraktionsspitze Merkel nicht schwächen, sondern stärken soll.

    Die Verfassung sieht in Artikel 68 den Weg der Vertrauensfrage ausdrücklich vor, um eine Neuwahl zu ermöglichen. Zuletzt hatte SPD-Kanzler Gerhard Schröder diesen Weg gewählt. Wie geplant verlor er die Abstimmung am 1. Juli 2005. Nach der darauf folgenden Bundestagswahl musste er sein Amt an Merkel abgeben. Auch in der Fraktion will die Kanzlerin sich ihre Macht nicht per Abstimmung bestätigen lassen. Eine atmosphärische Nachwirkung könnte die Wahl allemal haben. Durch das geheime Wahlverfahren weiß niemand, wer wie abgestimmt hat. Das gegenseitige Misstrauen ist in der Unions-Bundestagsfraktion seit dem CSU-CDU-Streit vom Sommer ohnehin größer geworden. Es könnte jetzt noch weiter wachsen. Das macht die Fraktion unberechenbarer – auch für Brinkhaus.

    Merkel selbst will sich mehr auf die Bürger zubewegen. Am Montag entschuldigte sie sich für ihr Agieren in der Affäre um Verfassungsschutzpräsident Maaßen. Am Mittwoch kam die Ankündigung, dass die Kanzlerin im November nach Chemnitz reist, um mit Bürgern über die Vorfälle in der Stadt zu sprechen.

    Szenario 2: Merkel macht den Weg als
    CDU-Vorsitzende frei

    Merkel selbst sprach nach der Wahl von einer „Niederlage“. Schon das schlechte Bundestagswahlergebnis hatte eine Debatte über die Nach-Merkel-Zeit ausgelöst. Nun rückt diese Frage wieder ins Zentrum. Denn die von ihren Kritikern geforderte personelle „Erneuerung“ ist an der zweitwichtigsten Stelle im Machtgefüge der Union mit der Abwahl ihres Vertrauten Kauder nun vollzogen. Die CDU trifft sich Anfang Dezember zum Parteitag in Hamburg. Dort wird die Parteführung neu gewählt. Eigentlich soll Merkel, die seit 18 Jahren an der Spitze der Partei steht, dort für zwei Jahre im Amt bestätigt werden. 2020 könnte sie den Vorsitz abgeben, ein neuer Parteichef würde dann die CDU auch als Kanzlerkandidat in die Bundestagswahl führen.

    Infrage für die Nachfolge kommen Generalsekretärin Annegret Kramp-Karrenbauer, Gesundheitsminister Jens Spahn, Wirtschaftsminister Peter Altmaier oder die Ministerpräsidenten Armin Laschet und Daniel Günther. Doch Angela Merkel hat stets betont, dass der Parteivorsitz und die Kanzlerschaft in einer Hand bleiben müssen. Würde ausgerechnet sie mit diesem Grundsatz brechen? Die Parteiführung abgeben und als Kanzlerin im Amt bleiben? Oder sich aus beiden Ämtern verabschieden? Am Mittwoch kommen aus der Parteiführung besänftigende Signale, man betont die Stabilität.

    Doch ein schlechtes Ergebnis beim Parteitag wäre ein weiteres Menetekel für Merkels Erosion der Macht. Seit Jahren kommt Kritik an Merkel gerade vom Wirtschaftsflügel der Union, vor allem dem Parlamentarischen Kreis Mittelstand (PKM). Dieser verbucht den Dienstag als Erfolg, denn es hatte vor der Fraktionssitzung Abstimmungen unter den Mitgliedern gegeben. Dabei hatte sich ein deutlicher Vorzug für den Finanzexperten und harten Haushälter Brinkhaus gezeigt. Es gibt die Hoffnung, dass die neue Unions-Fraktionsführung sich in der großen Koalition wirtschaftsfreundlicher aufstellt – und auch steuerliche Entlastungen energischer angeht.

    Allerdings: Ob die jüngeren Kritiker etwa von Merkels Flüchtlingspolitik wie Gesundheitsminister Spahn, Fraktionsvize Linnemann oder Junge-Union-Chef Paul Ziemiak wirklich glücklich mit dem Aufstieg von Brinkhaus sind? Denn der 50-Jährige kommt wie das Trio aus Nordrhein-Westfalen und könnte die Forderung nach einem weiteren personellen Wachwechsel in der Union erst einmal verstummen lassen. Der CDU-Politiker und Merkel-Kritiker Wolfgang Bosbach jedenfalls geht davon aus, dass Merkel sich im Amt hält. „Wer jetzt schon politische Nachrufe auf die Kanzlerin verfasst, kann sich die Mühe sparen. Die Wahlperiode dauert noch drei lange Jahre“, sagte er dieser Redaktion.

    Szenario 3: Die CSU erlebt bei der Bayernwahl ein Debakel und sprengt die Regierung

    Nicht nur Merkel, sondern auch CSU-Chef Horst Seehofer und CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt hatten massiv für Kauders Verbleib an der Fraktionsspitze geworben. Auch ihre Macht ist beschädigt. Im CSU-Teil der Fraktion grummelt es gewaltig. Nicht zuletzt, weil die Partei vor der bayerischen Landtagswahl am 14. Oktober in den Umfragen nur bei 35 Prozent liegt. Für bayerische Verhältnisse ist das sehr wenig. Ein Debakel bei der Wahl könnte zu unkalkulierbaren Personalrochaden an der Spitze führen. So könnte Seehofer als CSU-Chef seinen Hut nehmen müssen, auch sein Amt als Innenminister in Berlin könnte er dann kaum behalten. Merkel müsste ihr Kabinett umbilden, etwa den bayerischen Innenminister Joachim Herrmann neu aufnehmen. Und Seehofer würde viel daran liegen, dass er und Merkel sich zusammen aus der Politik verabschieden. Es sind Wochen der Veränderung in Berlin.