Ghazzé/Beirut.

Wenn sie könnte, dann würde Ghada die Koffer packen, sich ihre fünf Kinder schnappen und zurück nach Syrien gehen. Von dem kleinen Ort Ghazzé im Osten des Libanons, wo sie seit drei Jahren lebt, sind es nur etwa 15 Kilometer bis zur Grenze, immer Richtung Berge. Dann wären sie wieder zu Hause.

Aber ein Zurückkehren ist keine Option, zumindest noch nicht. „Jeder, der aus Syrien geflüchtet ist, muss Angst haben zurückzukehren“, sagt die 41-Jährige. Geflüchtete gelten dem Regime von Machthaber Baschar Al-Assad als Verräter. Egal ob jung oder alt, Frau oder Mann. In Ghadas Familie sind es vor allem die Frauen, die vor dem Bürgerkrieg ins Nachbarland geflohen sind. Die Männer sind tot, verschollen oder im Gefängnis. Ihr Mann genauso wie ihr Vater, der Bruder und auch der Onkel.

Gemeinde hat 6000 Einwohner – und 25.000 Flüchtlinge

Ghada sitzt auf einem weißen Plastikstuhl im Gras, ein Baum gibt ein wenig Schatten im heißen libanesischen Sommer. Hinter ihr steht die Schule, die sie zusammen mit anderen Frauen aus Syrien gegründet hat. Ein schlichtes Gebäude aus beigen Steinen, rundherum Wiese und ein kleiner Spielplatz. Eine Rutsche, zwei Schaukeln, eine Wippe, Sand und ein Klettergerüst. Ein Ort, an dem Flüchtlingskinder vor allem Englisch lernen, um den Übergang ins libanesische Schulsystem zu schaffen. Im Libanon werden viele Fächer von Beginn an auf Englisch unterrichtet – in Syrien aber haben die Kinder in der Schule nur Arabisch gesprochen.

„Damme“ heißt die Schule – Umarmung. Und eine Umarmung können viele in Ghazzé brauchen.

Ein paar Meter hinter Ghada, die Wiese entlang, die Treppenstufen hoch, am Eingang links, sitzen die Kinder im Unterricht. Vor den Klassenzimmern kleben große, bunte Buchstaben und Zahlen an den Wänden, in den Zimmern hängen selbst gemalte Bilder.

„Klatscht für Elif“, ruft Lehrer Osama Sisi vorn an der Tafel auf Englisch. Das Mädchen hat richtig auf seine Frage geantwortet und bekommt nun Applaus der anderen Kinder. Elif strahlt – und der 31-jährige Sisi ist glücklich. Er kommt auch aus Syrien, wie seine Schüler, hat auch dort als Lehrer gearbeitet. Nun ist er in Ghazzé. „Ich wollte nicht zum syrischen Militär, wollte nicht für die Armee von Assad kämpfen“, sagt er. Deshalb ist er in die kleine Gemeinde in der Bekaa-Ebene geflohen.

Ghadas Schule ist Hilfe zur Selbsthilfe. Für die etwa 280 Kinder, die hier lernen und spielen können – aber auch für die rund 20 Lehrerinnen und Lehrer, die fern der Heimat eine neue Aufgabe gefunden haben. „Ich bin stolz auf das, was wir hier alle leisten“, sagt Ghada. Einige „Damme“-Schüler zählen zu den Besten in der Region und haben die öffentliche Schule als Jahrgangsbeste abgeschlossen. Die NGO Alpha (Lebanese Association for Human Promotion & Literacy) hilft bei dem Projekt, finanziert wird es vollständig von der Kindernothilfe mit Sitz in Duisburg.

Die deutsche Schauspielerin Natalia Wörner ist Botschafterin der Kindernothilfe für das Projekt. Sie hat die Entwicklung im Libanon in den vergangenen Jahren „mit großer Aufmerksamkeit verfolgt, vor allem aufgrund der brisanten Flüchtlingsthematik“, wie sie sagt. Vor zwei Jahren war sie zum ersten Mal dort, in diesem Juli noch einmal. „Die Problematik hat sich verschärft.“ Ein Projekt, wie das von Ghada, sei da noch beeindruckender, sagt Wörner.

Wegen des Bürgerkriegs in Syrien haben über 13 Millionen Menschen ihr Land verlassen, etwa 5,6 Millionen von ihnen fanden Zuflucht in den Nachbarländern. Neben der Türkei kamen sie vor allem in den Libanon. Gemessen an der Einwohnerzahl hat das Land die meisten Menschen aufgenommen: ein Viertel seiner Bevölkerung vor Beginn des Kriegs. Offiziell sind es etwa eine Million, inoffiziell wohl deutlich mehr.

Der Ort Ghazzé steht stellvertretend für viele andere im Libanon: Eigentlich hat die Gemeinde nur 6000 Einwohner, hat in den vergangenen Jahren aber Tausende Flüchtlinge aufgenommen, 25.000 sind es inzwischen. Eine beeindruckende Zahl, vor allem, wenn man sie mit den Größenverhältnissen in anderen Ländern vergleicht, Deutschland etwa. Nach Zahlen der Bundeszentrale für politische Bildung wurden im Jahr 2017 insgesamt 186.644 Asylanträge gestellt – bei einer Einwohnerzahl von etwa 82,5 Millionen. Kein einziger Ort in Deutschland hat mehr Flüchtlinge aufgenommen, als er Einwohner hat. Ganz anders Ghazzé.

Dabei ist die Bekaa-Ebene im Osten des Libanon eine strukturschwache Region. Eingebettet zwischen zwei Bergketten, dem Libanon-Gebirge im Inneren des Landes und dem Antilibanon-Gebirge an der Grenze zu Syrien, gibt es außer landwirtschaftlichen Produkten wie Kaffee und Gemüse, Tabak und Wein, für die die Gegend bekannt ist, nicht viel.

Die Schule ist deshalb nicht nur der Ort, wo die Kinder lernen – sie ist auch ein Ort, wohin sie kommen, weil sie nicht nach Hause wollen. In die Wohnungen etwa, die sie sich mit vielen anderen Familienangehörigen teilen. Manche leben auch in einem der zahlreichen Lager, die es hier gibt und die nicht viel mehr sind als eine Ansammlung von Wellblechhütten und Zelten aus Planen, dazwischen staubige Wege und streunende Katzen. „Manche Kinder haben nicht viel zu essen und kaum Spielzeug – aber sie kommen dennoch, weil sie etwas lernen wollen“, sagt Ghada.

Sie hat schon in Syrien mit Freundinnen eine alternative Schule aufgebaut – damals, als der Krieg ausbrach und es keine andere Möglichkeit mehr gab, die Kinder zu unterrichten. „Als wir hierher kamen, damals vor drei Jahren, haben wir gemerkt, dass der Bedarf riesig ist“, sagt sie.

Kein Militär, kein Blut, kein Kriegslärm, keine Checkpoints

Ghada und ihr Familie kommen aus Zabadani, etwa 30 Kilometer nördlich von Damaskus. Die Stadt mit damals etwa 45.000 Einwohnern war lange Zeit Oppositionshochburg. Mit friedlichen Protesten hatte 2011 alles angefangen. Aber friedlich blieben sie nicht lange. Das Regime schritt ein, belagerte die Stadt, die Menschen demonstrierten weiter. Auch Ghada, ihr Mann, ihre Geschwister, deren Männer und Frauen, ihr Onkel, ihre Eltern. So wurden sie Zielscheibe des Militärs. 2012 wurde ihr Mann verhaftet, kam in ein Gefängnis. Gesehen hat Ghada ihn nicht mehr. Ob er überhaupt noch lebt? Sie weiß es nicht. „Meinen Kindern sage ich, dass er irgendwann wiederkommt, aber ich selbst bin mir da nicht mehr sicher.“

Irgendwann hat sie es nicht mehr ausgehalten und floh ins Nachbarland.

Auch wenn nicht alles in ihrem Leben hier im Libanon gut ist, auch wenn sie ihre Heimat vermisst, das Haus und ihr altes Leben – es sei so viel besser, als in den letzten Jahren in Syrien, sagt Ghada. Kein Militär, kein Blut, kein Kriegslärm, keine Checkpoints. „Wenigstens sind wir hier in Sicherheit“, sagt sie. „Wenn du duschen willst, dann kannst du duschen.“ So einfach ist Glück manchmal.

Ob sie oft darüber nachdenkt, nach Syrien zurückzukehren? „Jeden Tag“, sagt sie da. „Aber so lange Assad an der Macht ist, sind es nur Gedanken.“