Berlin.

Am Maaßen-Morgen danach versucht Franziska Giffey, die Stimmung zu retten. Die junge Familienministerin von der SPD verteilt zur Kabinettssitzung freudestrahlend Pappwürfel an ihre Kollegen. Darauf sind Botschaften aus ihrem „Gute-Kita-Gesetz“ gedruckt, das die Ministerrunde auf den Weg bringen wird. Zum Lachen ist den übrigen Sozialdemokraten am Tisch eher nicht zumute. Vizekanzler Olaf Scholz schaut verkniffen, als er hinter Angela Merkel in den Kabinettssaal kommt. Horst Seehofer schiebt mit ernster Miene seine 193 Zentimeter in den Raum.

Über Nacht hat sich in der Republik ein veritabler Shitstorm über den drei Parteichefs von CDU, CSU und SPD und der schwarz-roten Koalition zusammengebraut. Die Entscheidung von Merkel, Seehofer und Andrea Nahles, den nach Chemnitz mit unbelegten Fake-News-Vorwürfen vorgepreschten Verfassungsschutzpräsidenten, Hans-Georg Maaßen, zwar abzulösen, aber mit einem Gehaltsbonus von monatlich rund 2500 Euro zum Staatssekretär in Seehofers Innenministerium zu befördern, bringt viele Menschen in Wallung. Ganz besonders in der leicht erregbaren SPD.

Abgeordnete in Nord, Süd, West und Ost berichteten von wütenden Mails, Anrufen und ersten Parteiaustritten, mit gleichlautendem Tenor: Habt ihr sie noch alle, warum legt die Koalition mit dem „goldenen Handschlag“ für Maaßen ein kostenloses Konjunkturprogramm für die AfD auf?

Die SPD-Minister müssen im Kabinett noch zustimmen

Sigmar Gabriel, der frühere Parteivorsitzende, Ex-Außenminister und Erzrivale von Nahles, sitzt am lauen Dienstagabend im Berliner Szeneviertel Prenzlauer Berg auf einer kleinen Theaterbühne. Der Goslarer liest aus seinem neuen Buch zur Weltpolitik vor. Doch der Fall Maaßen wühlt ihn wie Tausende andere Genossen enorm auf. „Wenn Illoyalität und Unfähigkeit im Amt jetzt mit Karrieresprüngen belohnt werden, dann hat Horst Seehofer die Chance, noch UN-Generalsekretär zu werden“, sagt Gabriel zur wundersamen Karriere des Beamten Maaßen. „Das ist doch irre.“ Er sei gespannt, ob die sechs SPD-Minister im Kabinett dem Kuhhandel überhaupt zustimmen. Bevor sich Gabriel in die Nacht verabschiedet, murmelt er noch, was in der Partei los gewesen wäre, wenn er so einen Deal eingefädelt hätte.

Seine Nach-Nachfolgerin Nahles – dazwischen gab es ja noch die Martin-Schulz-Episode – hatte offensichtlich weniger Skrupel, Seehofer gewähren zu lassen. Nahles wusste, dass sie für diese Einigung in den eigenen Reihen keine Jubelstürme erwarten durfte. Noch am Abend hatte sie eine Handreichung an führende Parteimitglieder verschicken lassen, wie das Ergebnis öffentlich zu verkaufen sei: „Herr Maaßen muss als Verfassungsschutzpräsident gehen. Die SPD hat sich durchgesetzt. Die SPD hat dafür gesorgt, dass Herr Maaßen in der von Horst Seehofer zugedachten Aufgabe keinen Einfluss mehr hat auf den Verfassungsschutz.“ Nahles glaubt, das werde ausreichen, um die Partei ruhig zu halten. Eine krasse Fehleinschätzung, nicht die erste seit April. In einer Telefonschalte des Präsidiums geht das Kalkül zunächst auf. Es gibt leise Kritik, ansonsten wird geschwiegen. Ein Teilnehmer, der beunruhigt ist, spricht kurz danach von einer „gespenstischen Atmosphäre“.

Es dauert nicht lange, bis die Lawine in der Partei ins Rollen kommt. Kevin Kühnert, Juso-Chef und Posterboy von Parteilinken und GroKo-Gegnern, spricht von einem Schlag ins Gesicht. Kühnert ruft die Partei auf, den Stecker zu ziehen, die Koalition aufzukündigen. Am Mittwoch dreht er weiter auf: „Seehofer zeigt der Kanzlerin, den Koalitionspartnern und letztendlich der gesamten Öffentlichkeit den Mittelfinger.“ Der CSU-Vorsitzende sei die „Karikatur eines Ministers“, der nur noch seiner Erzfeindin Merkel „maximalen Schaden“ zufügen wolle, so der 29-Jährige.

In den Fingern von Ralf Stegner, intern gern auch „Twitter-Ralle“ genannt, glüht seit der Einigung das Handy. In enger Taktfolge feuert der Nahles-Stellvertreter aus Bordesholm im hohen Norden Wutnachrichten in die sozialen Netzwerke ab. Sie gipfeln in dem Satz: „Mit Seehofer und seinen Eskapaden haben wir uns die Pest an Bord geholt.“ Andere Genossen sprechen von „Affenzirkus“ und „Regierungschaoten“. Die verrohte Sprache zeigt die angestaute Hilf- und Mutlosigkeit.

Aber kann der aufheulende linke Flügel der 66-Prozent-Vorsitzenden Nahles ernsthaft gefährlich werden? Noch stützen Schwergewichte wie Niedersachsens Regierungschef, Stephan Weil, Nahles’ Mantra, die Koalition um (fast) jeden Preis zu erhalten, weil das Bündnis viel Gutes für das Land bewegen könne und Neuwahlen nur der AfD helfen würden. Aus dieser Linie schert die bayerische SPD-Landeschefin, Natascha Kohnen, aus. Sie lehnt die Maaßen-Rochade rundweg ab. „Ich erwarte, dass die Kabinettsmitglieder der SPD seine (Seehofers) Entscheidungen nicht mittragen.“ Es ist ein Hilfeschrei der Spitzenkandidatin in Bayern. Kohnen wird im Freistaat zwischen AfD und Grünen zerrieben. Sie hat Angst, mit der SPD am 14. Oktober in die Einstelligkeit abzustürzen. Die Frau mit den blonden Locken und der Brille liegt mit Nahles seit Längerem im Clinch. Jetzt greift sie die Vorsitzende an.

Dass Maaßen, der rechtsextreme Ausschreitungen in Chemnitz verharmlost habe, die Karriereleiter nach oben falle, „das versteht niemand und es ist auch nicht zu verstehen“, schreibt sie an Nahles. Es entstehe der Eindruck, „dass wir für jeden Unsinn aus Angst vor den Alternativen die Hand reichen. Und das ist weder politisch-strategisch klug noch die verabredete Erneuerung“. Das ist eine Ohrfeige. Auch aus Nordrhein-Westfalen kommen Proteste. Thomas Kutschaty, Chef der Landtagsfraktion, fordert Nachverhandlungen. „Das ist kein Kompromiss. Das ist ein Schadensfall.“ Am Montag tagt die SPD-Spitze.

Seehofer präsentiert großes machiavellistisches Kino

Nahles, deren achtjährige Tochter in der Eifel in die Schule geht und von Nahles’ Mutter umsorgt wird, hat sich am Mittwoch in die Heimat zurückgezogen. Schon am Vorabend geht die 48-Jährige auf Tauchstation, lehnt alle Interviewanfragen ab. Sie schickt ihren Generalsekretär, Lars Klingbeil, in die TV- und Radiosendungen. Aber auch der Zweimetermann aus Niedersachsen kann die Protestwelle nicht aufhalten. Nach Kohnens Wutbrief greift Nahles selbst noch einmal ein. In einer Mail an die rund 450.000 Mitglieder wirbt sie für die Lösung. Maaßen, der „Stichwortgeber für Verschwörungstheoretiker“, verlasse das Amt. Die Nummer mit dem Staatssekretär sei nicht zu ändern, das sei Seehofers Schuld. „Die SPD sollte diese Bundesregierung nicht opfern, weil Horst Seehofer einen Beamten anstellt, den wir für ungeeignet halten.“ Europa stehe vor einer Zerreißprobe, es drohe ein Handelskrieg mit den USA.

Und Seehofer? Der viel gescholtene CSU-Chef hat um die Mittagszeit seinen großen Auftritt. Ob er nach der Bayernwahl, wo der CSU der Verlust der absoluten Mehrheit droht, noch im Amt sein und an diesem Pult stehen werde, lautet die Eingangsfrage. Seehofer atmet tief ein, wirkt noch ein bisschen bleicher. Als „Gefährder“ und „Überforderter“ werde er beschrieben, gewährt der 69-Jährige Ex-Ministerpräsident einen Blick in seine wunde Seele. „Da muss man drüber stehen. Gehen Sie davon aus, dass ich beim Umsetzen der Maßnahmen noch vor Ihnen stehe.“

Man muss kein Seehofer-Fan sein, der seit 2015 mit Eskalationen gegen Merkels Migrationspolitik („Herrschaft des Unrechts“, „Mutter aller politischen Probleme“) die Koalition und die CSU immer tiefer in die Krise geritten hat. Aber wie Seehofer in knapp 30 Minuten seine Maaßen-Lösung präsentiert, ist großes machiavellistisches Kino.

Die SPD schäumt? Das Ergebnispapier sei von allen drei Parteichefs gebilligt worden. Erst handschriftlich, dann „auf Maschine und ausgedruckt“ sei festgehalten worden, dass Maaßen eine neue Verwendung erhalte und auf Wunsch von Frau Nahles nicht die Aufsicht über die Geheimdienste bekomme. „Das lag klar leserlich vor uns, da konnte sich kein Missverständnis des Gehörten einstellen“, sagt Seehofer. Er hätte Maaßen, den exzellenten Beschützer gegen islamistische Terroristen, ohne den Druck der SPD niemals abgezogen. „Ich hab’s mir ned gewünscht.“ Dafür, dass die SPD Maaßen weggemobbt hat, rächt sich Seehofer kalt. Erst beim Verlassen des Kanzleramts fragt Nahles ihn, welcher der acht Top-Beamten für Maaßen rausfliegt: „Jedenfalls kein CSUler“, erwidert Seehofer. Nahles schluckt. Es trifft SPD-Staatssekretär Gunther Adler. Er gilt als heimlicher „Bauminister“, am Freitag ist Wohngipfel bei Merkel. Seehofer schert sich nicht darum: „Er ist jetzt halt Opfer.“ In der SPD kochen sie. Spitzenleute werfen Nahles vor, die Sache mit Adler, der einen anderen Job bekommen soll, unter den Teppich gekehrt zu haben.

Tagelang hatte Nahles geprahlt, Merkel stehe auf ihrer Seite, stelle sich gegen Seehofer und Maaßen. Als es hart auf hart kommt, lässt die CDU-Chefin ihre einstige Arbeitsministerin hängen. Merkel macht die Raute und schweigt. „Einen Vertrauensentzug durch die Kanzlerin, den habe ich nicht gehört“, verkündet Seehofer. Er hat es allen gezeigt. Ob er sich und dem aufgewühlten Land, in dem eine gefährliche Mischung gegen „die da oben“ in Berlin herrscht und die AfD in Teilen des Ostens gemeinsame Sache mit Rechtsextremen macht, damit einen Gefallen tut, wird sich zeigen. Noch geht es für die drei erschöpften Parteichefs weiter. Und für Hans-Georg Maaßen auch.