Berlin.

Pünktlich um neun Uhr am Donnerstagmorgen stand Bundesinnenminister Horst Seehofer am Rednerpult im Bundestag. Es ist Haushaltswoche, Seehofer gab Auskunft über die Arbeit seines Ministeriums. Vor allem verteidigte der CSU-Chef jedoch sein Festhalten an Verfassungsschutzpräsident Hans-Georg Maaßen.

Maaßen habe als Präsident „weiterhin mein Vertrauen“, betonte Seehofer. Der Spitzenbeamte habe bei seiner Befragung im Innenausschuss am Mittwochabend seine Handlungsweise „umfassend und aus meiner Sicht überzeugend“ darlegen können. Er habe dabei „manche Verschwörungstheorie überzeugend entkräften können“. Darüber hinaus habe Maaßen „überzeugend Position gegen den Rechtsextremismus bezogen“. „Es ist kein Mangel, wenn ein Präsident einer Behörde sein Bedauern über die Wirkung seines Interviews zum Ausdruck bringt“, sagte der Innenminister noch.

Maaßen steht seit einer Woche im Feuer. Er hatte der „Bild“-Zeitung Äußerungen freigegeben, ihm lägen „keine belastbaren Informationen“ darüber vor, dass in Chemnitz nach dem Tod eines mutmaßlich von Migranten erstochenen Deutschen und anschließenden teilweise gewalttätigen und rassistischen Demonstrationen „Hetzjagden“ stattgefunden hätten. Die Echtheit eines Videos, das Drohungen gegenüber Ausländern zeigen soll, zweifelte er an. Im Innenausschuss des Bundestages sagte Maaßen nach Angaben von Teilnehmern dann, dass er sich falsch verstanden fühle, die eine oder andere Wendung „heute anders formulieren“ und „vielleicht auch weglassen“ würde. An seiner Kritik an den Medien habe er jedoch festgehalten. Seehofer sprach Maaßen noch am Abend nach der Sitzung sein Vertrauen aus, ein paar Stunden später am Morgen im Bundestag dann zum zweiten Mal. SPD-Innenexperten zweifelten nach dem Innenausschuss zwar erneut Maaßens Eignung für das Amt an, dennoch hatten selbst Oppositionspolitiker zu später Stunde eher den Eindruck, Maaßen sei vorerst aus der Schusslinie gekommen.

Die SPD forderte früh die Ablösung Maaßens

Um 12.08 Uhr am Donnerstag verschickte die SPD dann eine Presseinformation. „Für die SPD-Parteiführung ist völlig klar, dass Maaßen gehen muss. Merkel muss jetzt handeln“, wurde darin Generalsekretär Lars Klingbeil zitiert. Die Sätze waren in der engeren Parteiführung in einer Telefonschalte abgestimmt worden. Wirklich überraschend ist der Inhalt nicht. Denn SPD-Chefin Andrea Nahles hatte Maaßen bereits am Montag nach einer Präsidiumssitzung ultimativ aufgefordert, Belege für seine Behauptungen vorzulegen, in Chemnitz habe es keine Hetzjagden gegeben und ein Video dazu könnte ein Fake sein: „Sollte er dazu nicht in der Lage sein, dann ist er in seinem Amt nicht länger tragbar.“ Für Nahles gab es spätestens seit dieser Festlegung im Fall Maaßen kein Zurück mehr. Maaßen steht seit August 2012 an der Spitze des Inlandsgeheimdienstes. Stünde er vor Gericht, dann würde man über die Gegner von Maaßen jetzt sagen, sie hätten am Donnerstag die nächsthöhere Instanz angerufen. Tatsächlich entscheidet über seinen Fall nicht mehr allein sein Dienstherr, Innenminister Seehofer, sondern die Koalitionsspitzen.

Am Nachmittag bat Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) ihn und Nahles dann zu sich. Am Nachmittag fuhren beide vor dem Kanzleramt vor: Krisentreffen. Seehofer weiß, dass die Frauen sich insgeheim einig sind. Sie wollen die Ablösung Maaßens. Nahles forderte sie öffentlich, Merkel schweigt, mutmaßlich zustimmend – hatte Maaßen mit seinen Äußerungen doch auch sie und ihren Regierungssprecher angegriffen.

Seehofer ist es, von dem eine radikale Kehrtwende erwartet wird, eine Zumutung in seinen Augen. Es sei alles gesagt, hieß es am Nachmittag aus dem Ministerium. Unversehens war der Fall Maaßen zu einer Zerreißprobe der Koalition geworden.

Maaßen verbrachte den Mittwoch in Berlin. Er besprach sich noch einmal mit Seehofer im Ministerium, bevor dieser ins Kanzleramt aufbrach. In der Politik gibt es mehr Leute, die aufgeben, als solche, die scheitern. Doch Maaßen will nicht aufgeben, um das Amt vor weiterem Schaden zu bewahren. Er will kämpfen, beziehungsweise Seehofer für sich kämpfen lassen. Aber er weiß auch, dass der Minister auch im Bamf-Skandal der Amtsleiterin Jutta Cordt erst sein Vertrauen ausgesprochen hat – dann wurde sie doch geschasst. Aus der Union kam am Nachmittag Unterstützung für Maaßen: Dieser habe sich durch seinen Auftritt im Innenausschuss nicht diskreditiert, im Gegenteil. Man stehe durchaus hinter ihm.

Wieder droht ein Zerwürfnis in der Koalition, wie schon nach dem verheerenden Streit der Union über die Zurückweisung von bestimmten Flüchtlingen an der Grenze. Für Seehofer wäre eine Ablösung Maaßens nach seiner klaren Positionierung ein großer Gesichtsverlust. Und die AfD würde wohl sehr rasch versuchen, Maaßen als eine Art Märtyrer für sich zu vereinnahmen.

Die Koalition kommt nicht in Tritt. Der Aufstieg der AfD und anti-demokratische Tendenzen in der Gesellschaft scheinen alle drei Parteien schwer zu verunsichern. In der Union ist es der Dauerzwist zwischen den beiden Parteivorsitzenden Merkel und Seehofer, der lähmt. Viel Ungesagtes schwelt weiter, auch in der SPD.

Die 48-jährige Nahles ist erst seit April als erste Frau an der Parteispitze. Selten trat die SPD in den vergangenen Monaten so geschlossen auf. Anfang Juli, auf dem Höhepunkt des Migrationsstreits zwischen CDU und CSU, war die SPD beim Krieg der Unionsschwestern in der Zuschauerrolle. Das nervte Nahles, weil die Bürger für den Krach letztlich alle Koalitionspartner verantwortlich machten.

Hinter den Kulissen ist die Nervosität in der SPD riesig. Die AfD liegt in einzelnen Umfragen gleichauf oder vor der SPD, die bei der Bundestagswahl fast eine halbe Million Wähler an die Rechtspopulisten verlor. Bei der Wahl am 14. Oktober in Bayern droht der SPD Platz vier. Jetzt geht es für viele Sozialdemokraten um mehr, um die Demokratie. Der Kampf gegen Rechts gehört zur DNA der ältesten deutschen Partei, die 1933 im Reichstag gegen das Ermächtigungsgesetz der Nazis stimmte. In Chemnitz wurde bei einer Kundgebung eine Gruppe hessischer SPD-Abgeordneter angegriffen.

Der Wutausbruch von Ex-Kanzlerkandidat Martin Schulz, der AfD-Chef Alexander Gauland im Bundestag als Demagogen brandmarkte, der Flüchtlinge wie einst die Juden zum Sündenbock machen wolle und auf den „Misthaufen“ der Geschichte wünschte, riss die SPD-Abgeordneten von den Stühlen und wurde in sozialen Medien bejubelt, während Reden von Nahles und Scholz wenig Begeisterung entfachen.

Aber welches Druckmittel hat Nahles in der Hand? Die Koalition wegen Maaßen platzen lassen, wie es Juso-Chef Kevin Kühnert als „eine Frage der Selbstachtung“ seiner Partei verlangt? Kühnert, der Nahles zu treiben scheint, ist vielleicht der einzige in der SPD, der für viele Mitglieder wirklich Erneuerung verkörpert, und das ist keine Frage des Alters. „Wenn wir es Maaßen und der CSU durchgehen ließen, Verschwörungstheorien zu verbreiten, würden wir die dramatische Diskursverschiebung nach rechts legitimieren“, sagte Kühnert dem „Spiegel“.

Nahles und Scholz ist der Selbsterhaltungstrieb der Partei wichtiger. Maaßen sei kein „casus belli“, also kein Grund für den Koalitionsbruch, wird immer wieder betont. Bei 16 bis 20 Prozent in den Umfragen könne die Partei keine Neuwahl riskieren. Die SPD werde „wegen Herrn Maaßen nicht die Koalition verlassen“, sagte Fraktionsvize Eva Högl öffentlich. Man wolle noch eine ganze Menge umsetzen, etwa bei den Themen Miete und Rente. Das klang fast devot, ein bisschen so, wie die SPD in den Augen vieler Kritiker seit Jahren als Juniorpartner von Merkel erscheint.

Warum sollte Seehofer dann nachgeben? Und warum sollte es sich Merkel, die ohnehin um Autorität ringt, mit der nicht kleinen Zahl von Maaßen-Fans in CDU und CSU verscherzen, um der SPD einen Gefallen zu tun? Den Versuch der Union, einen Abgang Maaßens auf die Zeit nach der Bayernwahl am 14. Oktober zu schieben, wollen die Sozialdemokraten jedenfalls nicht mitmachen. Aus führenden Zirkeln verlautete im Verlauf des Tages die Hoffnung, das süße Gift des Realismus werde hoffentlich auch bei Seehofer wirken.

Offensichtlich setzt die SPD darauf, dass Maaßen freiwillig geht. Das wäre für alle Beteiligten die charmanteste Lösung, weil sie gesichtswahrend sowohl für Merkel, Nahles und Seehofer wäre. „Ein Verfassungsschutzpräsident von Format, der Raum für Spekulationen bietet und erkennbar das Vertrauen eines Teils der Regierungskoalition verloren hat, sollte selbst Konsequenzen ziehen. Dies würde Platz für einen echten Neustart bieten und eine der zahlreichen Belastungsproben der Koalition beenden“, sagte der NRW-SPD-Landeschef Sebastian Hartmann.

Am Abend hieß es nach Informationen dieser Redaktion, man wolle sich am Dienstag erneut treffen, um die Causa Maaßen zu beraten, mit dem Ziel „der weiteren Zusammenarbeit in der Koalition“. Es sei ein „gutes und ernsthaftes Gespräch“ gewesen. Ein Ende des Koalitionskrachs? Nein, nur verschoben.