Kerpen/Düren.

Um 8.20 Uhr schallt eine Lautsprecherdurchsage durch den Hambacher Forst: Per Megafon geben Beamte der Bauaufsichtsbehörde am Donnerstagmorgen durch, was das nordrhein-westfälische Bauministerium am Abend zuvor veranlasst hat: „Es liegen schwerwiegende Verstöße gegen das Bauordnungsrecht vor“, schallt es in Richtung der Baumhäuser. „Die Baumhäuser wurden entgegen der einschlägigen brandschutzrechtlichen Vorschriften errichtet.“ Dreißig Minuten haben die Besetzer Zeit, dann sollen sie die Behausungen verlassen – oder es kommt zur Zwangsräumung durch die Polizei. „Bitte nehmen Sie Ihre persönlichen Gegenstände mit.“

Seit sechs Jahren protestieren rund 80 Umweltaktivisten im Hambacher Forst gegen die Abholzung des Waldes. Sie haben Barrikaden und Baumhäuser gebaut, teilweise mit Solaranlage, Heizung und Einbauküche. Sie wollen verhindern, dass der Eigentümer des Waldes, der Energiekonzern RWE, Europas größtes Braunkohlerevier, 20 Kilometer westlich von Köln, erweitert. Die unternehmerische Entscheidung ist von Gerichten und Landesparlament bestätigt. Im Oktober soll die Rodung beginnen.

Grüne und Linke witterneinen juristischen Trick

Nach Ablauf der 30 Minuten beginnen mehrere Hundertschaften der Polizei, die Baumhäuser der Umweltaktivisten zu räumen, die Einsatzkräfte stellen sich auf einen tagelangen und schwierigen Einsatz ein. Aus dem gesamten ­Bundesgebiet sind Polizisten zur Verstärkung in den Hambacher Forst gekommen – dazu Höhenkletterer, Wasserwerfer und schweres Räumgerät. Nach und nach müssen die Beamten mehr als 50 Baumhäuser abbauen, die Aktivisten kündigen als Reaktion „zivilen Ungehorsam“ und eine „bundesweite Massenmobilisierung“ an.

Für das Land ist die Räumung ein harter juristischer Kurswechsel. Noch 2014 weigerte sich die rot-grüne Landesregierung, von genehmigungspflichtigen „baulichen Anlagen“ zu sprechen. Sie folgte damals einer liberalen Duldung des Kreises Düren, der für einen Teil des Waldes zuständig ist. Die neue schwarz-gelbe Landesregierung sieht das nun völlig anders: Das Baurecht – und damit vor allem die Brandschutzbestimmungen – müssten eingehalten werden. Bei einem Feuer würden die Aktivisten „zu lebendigen Fackeln“, heißt es im Bauministerium.

Umweltschützer, Linke und Grüne reagierten empört: Sie sehen in der Kehrtwende einen juristischen Trick, um den Wald für die Rodung zu räumen. Grünen-Fraktionschef Anton Hofreiter bezeichnete die Räumungen als unverantwortliche Eskalation. Das Argument des Brandschutzes sei vorgeschoben. Vielmehr müsse die Devise sein: „Reden statt Räumen und Roden“, forderte er. Am Verwaltungsgericht Köln gingen bis zum Nachmittag sieben Eilanträge ein, die die Räumung in letzter Minute noch juristisch stoppen wollten.

Der Hambacher Forst ist mehr als ein Waldstück im äußersten Westen Deutschlands. Er ist ein Symbol für den Kampf gegen die Kohleverstromung, ein Schauplatz für das Duell der Klimaschützer gegen die Energiewirtschaft: Der Forst liegt am Rande des Braunkohle-Tagebaugebietes Hambach. Unter dem 85 Quadratkilometer großen Abbaufeld lagern 2,5 Milliarden Tonnen Braunkohle, die bis zu 450 Meter tief liegen. Vor Beginn der Kohleförderung war der Wald 4100 Hektar groß. Laut RWE wurden bislang 3900 Hektar für den Tagebau gerodet.

Bereits in der Vergangenheit kam es hier zu Zusammenstößen zwischen Aktivisten, dem Energieunternehmen RWE und den Behörden: Allein in diesem Jahr registrierte die zuständige Aachener Polizeibehörde bisher 88 Straftaten im Zusammenhang mit dem Hambacher Forst, wie ein Sprecher auf Anfrage unserer Redaktion mitteilte. Demnach geht es um unterschiedliche Vorfälle, von der „Störung öffentlicher Betriebe“ über einen besonders schweren Fall des Landfriedensbruchs bis hin zur versuchten gefährlichen Körperverletzung. Unter anderem lösten Unbekannte die Radmuttern eines abgestellten RWE-Fahrzeuges oder warfen Wurfanker auf die Oberleitung der Hambachbahn. Zudem seien Mitarbeiter von RWE und Polizeibeamte mit Steingeschossen oder Feuerwerkskörpern angegriffen worden. Im Vorjahr gab es laut einem Bericht des Innenministeriums 164 Straftaten.

Auch an diesem Donnerstag geht keiner der Besetzer freiwillig. Viele Stunden dauert allein der Abbau der besetzten Barrikaden. Erst danach kommen die eigentlichen Baumhäuser, die tiefer im Wald liegen – teilweise bis zu 25 Meter hoch. Es geht auch deshalb nur langsam voran, weil die Polizei behutsam vorgeht, auf keinen Fall sollen Bilder von verletzten Aktivisten um die Welt gehen, die einen Wald beschützen.

Doch gänzlich friedlich bleibt es nicht: Die Polizei spricht von drei Festnahmen und einem leicht verletzten Beamten. Polizisten und Einsatzfahrzeuge seien mit Steinen und Molotow-Cocktails beworfen worden. Clumsy ist der wohl bekannteste Aktivist im Hambacher Forst, weil er auch sein Gesicht zeigt. Seit vier Jahren lebt der Mann mit dem Tarnnamen auf einer Stieleiche, die er Mona nennt. „Ich habe auch einen Betonblock mit einem Rohr darin oben im Baum“, sagt Clumsy. Rücken die Polizisten an, will er das Rohr mit Kunstharz füllen und seine Hand darin einschließen.