Berlin.

Steffen Seibert ist zugeknöpft. Gewöhnlich spricht er für die Bundesregierung, erläutert die Linie seiner Chefin, Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU). Am Freitag muss sich der Sprecher selbst erklären – und drückt sich um Antworten. Seibert ist der Mann, der am 27. August zu den Vorgängen in Chemnitz mitteilte: „Solche Zusammenrottungen, Hetzjagden auf Menschen anderen Aussehens, anderer Herkunft, oder der Versuch, Hass auf den Straßen zu verbreiten, das nehmen wir nicht hin.“ Das ist fortan die Sprachregelung, auch die Merkels. Nun wird er aus den Reihen der Administration korrigiert. Der Präsident des Kölner Bundesamts für Verfassungsschutz, Hans-Georg Maaßen, erklärt in „Bild“, ihm lägen „keine belastbaren Informationen darüber vor, dass solche Hetzjagden stattgefunden haben.“ Wann hat es das schon mal gegeben? Ein Amtschef unterzieht die Position der Regierungschefin einem Faktencheck. Die besteht nicht.

Zum stärksten Beleg für die „Hetzjagden“ – ein Video – streut Maaßen Zweifel. „Nach meiner vorsichtigen Bewertung sprechen gute Gründe dafür, dass es sich um eine gezielte Falschinformation handelt, um möglicherweise die Öffentlichkeit von dem Mord in Chemnitz abzulenken.“ Beruht die öffentliche Empörung, die in die dritte Woche geht, auf einer Fälschung? Provoziert Maaßen seinen Rausschmiss? Wer sagt die Wahrheit? Hat sie überhaupt eine Chance? Es ist ein Kampf um die Deutungshoheit, der in Berlin tobt. Der Riss verläuft quer durch die Regierung.

Unabhängig vom Video gibt es viele Zeugen für die Krawalle

Die Diskussion erinnert an die Kölner Silvesternacht 2015/16. Damals hat sich die Deutung der Ereignisse über die Tage gedreht. Die Chronik der allgemeinen Verunsicherung beginnt am 26. August. Da ist erstmals von Übergriffen auf Ausländer in Chemnitz die Rede – als Reaktion, dass am Vorabend zwei Flüchtlinge einen Deutschen kubanischer Abstammung erstochen haben sollen.

Die Aufklärung läuft. Das Opfer selbst ist polizeibekannt. Der Mann kubanischer Abstammung war „bereits strafrechtlich in Erscheinung getreten“, teilte die Staatsanwaltschaft Chemnitz dieser Redaktion mit, die Taten lägen „aber bereits mindestens acht Jahre zurück.“ Das Verbrechen löst einen Sturm der Empörung aus. Am 26. August kursiert ein Video im Internet. Darauf sieht man, wie mehrere Männer einen Ausländer verfolgen, ihn aber nicht zu fassen kriegen. Die Frage ist, ob das Video gefälscht ist, beziehungsweise zwar echt, aber alt; was in der Wirkung auf das Gleiche hinausläuft. Laut „ARD-Faktenfinder“ gibt es keine Hinweise auf eine Fälschung. Faktoren wie Ort, Zeit und Wetterverhältnisse stimmten mit denen anderer Filme überein. Das Video sei zuvor nicht im Netz aufgetaucht, und Journalisten hätten über ähnliche Szenen berichtet.

Johannes Grunert, freier Mitarbeiter von „Zeit Online“, war vor Ort. Er sagt, „ich habe gesehen, wie es zu Jagdszenen auf vermeintliche Migranten gekommen ist.“ Die Opferberatungsstelle Sachsen teilt mit, nach ihren Kenntnissen seien allein am 26. August fünf Menschen wegen ihres Aussehens körperlich angegriffen worden. Bundestags-Vizepräsident Thomas Oppermann (SPD) erklärt im Deutschlandfunk: „Wir haben gesehen, wie Menschen da den Hitlergruß offen auf der Straße gezeigt haben.“ Auch eine Gruppe von Sozialdemokraten sei auf dem Weg zum Bus von Hooligans angegriffen worden. Am 27. August erstatten drei Geschädigte Anzeige. Eine 15-jährige Deutsche wird zusammen mit einem Afghanen leicht verletzt, ein Syrer auf offener Straße geschlagen, ein 30 Jahre alter Bulgare bedroht. Der SPD-Politiker Burkhard Lischka hält Maaßens Aussagen angesichts von 120 Ermittlungsverfahren für eine „ziemlich steile These“, wie er dem „Handelsblatt“ sagt.

Weder Polizisten, die in Chemnitz im Einsatz waren, noch das Landesamt für Verfassungsschutz haben allerdings Belege für Hetzjagden. Maaßen ist in Sicherheitskreisen nicht allein. Nicht nur dort: „Es gab keinen Mob und keine Hetzjagd“, beteuert Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU). Es seien „Geflüchtete durch die Stadt getrieben worden“, hält Sachsens Vize-Ministerpräsident Martin Dulig (SPD) dagegen. „Ob die einen es als Hetzjagd bezeichnen, die anderen als Jagd. Schlimm ist es, dass so etwas geschehen ist. Und wir sollten jetzt die Debatte auf den Kern des Themas lenken“, mahnt er. Neben allen anderen entzweit die Debatte die sächsischen Koalitionspartner.

Seehofer teilt die Argumentation Kretschmers, vor allem hat er nichts unternommen, um den Verfassungsschutz-Präsidenten zu stoppen; er hat ihn womöglich ermuntert, an die Öffentlichkeit zu gehen. Das Innenministerium wusste vorab von Maaßens Zweifeln, auch von seinem Interview. Jetzt stärkt Seehofer ihm demonstrativ den Rücken: „Ja, Herr Maaßen hat mein volles Vertrauen.“

Bei der routinemäßigen Lagebesprechung der obersten Sicherheitsbehörden – jeden Dienstag im Kanzleramt – fehlte Maaßen. Aber man muss davon ausgehen, dass seine Zweifel der Regierungszentrale bekannt waren – nur nicht Merkel? Ein Gespräch zwischen ihr und dem Geheimdienstchef gab es laut Seibert nicht. Gut möglich, dass Maaßen nichts unternommen hat, um Merkel die vermeintlich falsche Fährte auszureden.

Die Fronten sind klar: Auf der einen Seite Kretschmer, der Sicherheitsapparat, Seehofer und seine Partei, die CSU. Deren Berliner Landesgruppenchef Alexander Dobrindt verteidigt den Verfassungsschützer: „Es ist seine Aufgabe, die Öffentlichkeit darüber zu informieren, wie seine Faktenlage dazu ist.“ Auf der anderen Seite: Merkel und fast alle anderen Parteien im Bundestag. Linke und Grüne fordern Maaßens Ablösung, die SPD verlangt von ihm Beweise. Sie alle haben den Daumen gesenkt. Maaßen war bereits zuvor in Ungnade gefallen, weil er im „Fall Amri“ das Parlament nicht korrekt informiert haben soll; weil er die AfD nicht beobachten will und die Nähe zu führenden Rechtspopulisten nicht gescheut hat. Auch die AfD meldet sich zu Wort. Auch sie will, dass Köpfe rollen – und zwar der vom Regierungssprecher.

Maaßen muss liefern, ist er andernfalls politisch geliefert?

Während die Hetzjagden Deutungssache sind, lässt sich die Echtheit des Videos überprüfen. Maaßen sagt, „es liegen keine Belege dafür vor, dass das im Internet kursierende Video zu diesem angeblichen Vorfall authentisch ist.“ Worauf sich seine Zweifel gründen, verrät er nicht. Die Generalstaatsanwaltschaft Dresden hält das Video für echt. „Wir haben keine Anhaltspunkte dafür, dass das Video ein Fake sein könnte“, sagte Oberstaatsanwalt Wolfgang Klein „Zeit online“. CDU-Innenexperte Stephan Harbarth verlangt Aufklärung. Maaßen muss liefern. Ist er sonst geliefert?

Ist das Video echt, hat Maaßen Verwirrung gestiftet. Spekulationen statt Fakten? Dann könnte Seehofer seine schützende Hand zurückziehen. Es gibt Leute, die ihm zutrauen, den Amtschef in eine Situation manövriert zu haben, in der er sich um Kopf und Kragen redet.

Am Dienstag steht der traditionelle Empfang der Sicherheitsdienste an, der ursprünglich auf Maaßen zurückgeht. Es ist die ideale Gelegenheit für Seehofer, sich hinter den Geheimdienstchef zu stellen, zur Rückenstärkung oder zum Abschied, wer weiß das schon so genau?