Kaum eine bilaterale Beziehung ist in diesen Tagen derart komplex und beladen wie die zwischen Deutschland und der Türkei. Die gute Nachricht: Berlin und Ankara rüsten rhetorisch ab. Hierzulande wird der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan nicht mehr tagtäglich mit der Verbalkeule des „Diktators“ traktiert. Umgekehrt wirft Erdogan Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) nicht mehr „Nazi-Methoden“ vor wie noch im Frühjahr 2017. Vor dem Verfassungsreferendum im April hatten türkische Politiker in Deutschland Auftrittsverbot.

Nachdem Erdogan die Wahlen gewonnen und ein Präsidialsystem errichtet hat, scheint er sich verstärkt um Partner zu bemühen. Eine äußerst intensive Reise-Diplomatie unterstreicht dies. Den Anfang macht Außenminister Heiko Maas (SPD) mit seinem zweitägigen Antrittsbesuch in der Türkei.

Erdogan braucht Entspannung, weil er gleich mehrere Brände löschen muss. So leistet er sich einen Privatkrieg mit US-Präsident Donald Trump. Auch in der Wirtschaft brennt es. Mit staatlichen Aufträgen hat Erdogan zwar die Firmen im eigenen Land unter Strom gesetzt. Da aber vieles auf Pump finanziert war und die Zentralbank die anziehende Inflation nicht mit höheren Leitzinsen dämpfen durfte, lief die Konjunktur heiß. Zudem floss ausländisches Kapital in den Dollarraum ab, was eine Talfahrt der Lira auslöste. Das trifft auch Banken in EU-Ländern. Bekommen sie ihre Kredite von der Türkei nicht zurückbezahlt, stecken auch deutsche Institute in der Bredouille.

In der Außenpolitik gibt es ebenfalls wichtige Berührungspunkte. Sowohl Ankara als auch Berlin bemühen sich, eine weitere große Flüchtlings­katastrophe in Syrien zu vermeiden. Doch genau die droht, weil die Regierungstruppen mit ihren Verbündeten Russland und dem Iran die Provinz ­Idlib im Nordwesten stürmen wollen. Sie gilt als letzte Rebellen-Hochburg. Kommt es zu einer vernichtenden Schlacht, wären die Türkei und Deutschland vermutlich am stärksten betroffen. Beide Länder verfolgen zudem das gleiche Ziel beim Wiederaufbau Syriens: Der Weg führt über eine neue Verfassung und freie Wahlen.

Die Türkei braucht Deutschland. Aber Deutschland braucht auch die Türkei. Der Flüchtlingsdeal zwischen Ankara und der EU nutzt in hohem Maße auch der Bundesrepublik, die seit 2015 mehr als eine Million Migranten aufgenommen hat. Zudem besteht hierzulande das große Interesse, die Reibungen mit den mehr als drei Millionen türkeistämmigen Menschen möglichst gering zu halten.

Natürlich ist Deutschland daran gelegen, dass sich Ankara in Richtung der Rechtsstaats- und Menschenrechtsstandards der EU bewegt. Die Inhaftierung von Bundesbürgern in der Türkei belastet die bilateralen Beziehungen. Aber es ist eine Frage des Fingerspitzengefühls, wie und auf welcher Bühne das thematisiert wird. Man kann Erdogan in Deutschland mit schrillem Ton zur Ordnung rufen. Dies wird billigen Applaus bei der eigenen Klientel bringen, in der Sache ändert es nichts.

Maas und Merkel sollten auch gegenüber Autokraten wie Erdogan Klartext reden. Die öffentliche Bühne wäre hierfür aber kontraproduktiv. Besser eignet sich der Austausch hinter den Kulissen. Schulterschluss und Mut zum diskreten Dissens: In diesem Spannungsverhältnis steht das Ringen um eine neue deutsch-türkische Normalität. Die Welt ist im Trump-Zeitalter extrem kompliziert geworden. Mehr denn je ist Pragmatismus gefragt. Mit moralinsauren Zurechtweisungen ist niemandem gedient.

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