Chemnitz.

„Wir sind nicht naiv“, sagte Felix Brummer, Sänger der Chemnitzer Band Kraftklub, „wir wissen, ein Konzert kann nicht die Welt retten. Aber es ist wichtig, dass die Leute sich nicht alleingelassen fühlen.“ Und: „Wir werden auch noch hier sein, wenn die Kameras weg sind.“ Kraftklub zählte zu den Initiatoren des Open-Air-Konzerts, das am Montagabend unter dem Motto „Wir sind mehr“ ein Zeichen der Zivilgesellschaft gegen Hass, Hetze und Gewalt setzte. Und was für eins.

Die einzigen dicken Rauch- und Nebelschwaden, die diesmal in Chemnitz gesichtet wurden, kamen aus der Trockeneismaschine auf der Konzertbühne: Mehr als 65.000 Menschen protestierten gegen Rassismus, Ausländerfeindlichkeit und Gewalt. Bands wie die Toten Hosen, Kraftklub, Materia oder Feine Sahne Fischfilet spielten gratis unter dem Motto „#wirsindmehr“.

Das Konzert sendete die eindrucksvolle Botschaft aus: Chemnitz kann auch anders – ganz anders als bei den fremdenfeindlichen Ausschreitungen und Demonstrationen nach dem Tod eines 35-Jährigen durch eine Messerattacke. Gerade die Szenerie am Tatort symbolisierte die grundlegend veränderte Stimmung: Gespräche und angeregte Diskussionen dort, wo sich vor gut einer Woche noch hasserfüllte Gesichter angegiftet hatten. Ein Konzertbesucher twitterte vielen aus der Seele: „Bin ehrlich berührt von den Massen an jungen Leuten, die gerade in #Chemnitz dem Nazimob die Regenbogen- und Europafahne vors Gesicht halten. Wir sind jung und #wirsindmehr!“

Kritik an Bundespräsident Steinmeier

Die schwächste Stelle der Stadt war noch die Infrastruktur: Das Mobilfunknetz ging einige Male in die Knie. „Bitte stellen Sie sich auf die Situation ein“, bat die Polizei via Twitter. Auch der öffentliche Nahverkehr im Stadtzentrum wurde vorübergehend eingestellt. Zudem warnten die Ordnungshüter vor überlasteten Zügen. Die Polizei in Chemnitz wurde durch Beamte aus sechs Bundesländern und von der Bundespolizei unterstützt. Alles blieb ruhig und friedlich. Am Karl-Marx-Monument, von dem zuletzt eher bedrohliche Bilder ausgingen, machten DJs Stimmung mit ihrer Musik. Das Zentrum war belebt und beliebt wie lange nicht mehr.

Seit Tagen blickte die Republik mit Sorge auf Chemnitz: Nach dem Messerattentat auf Daniel H., nach den ausländerfeindlichen Hetzjagden vor einer Woche, nach dem Schulterschluss der Rechten mit 8000 Demonstranten am Sonnabend – Chemnitz stand für eine Stadt, in der die Rechten die Oberhand zu gewinnen drohen. Mit einer Schweigeminute wurde zu Beginn des Konzertes an den 35-Jährigen erinnert. Tatverdächtig sind ein Syrer und ein Iraker.

In einer Sondersitzung des sächsischen Innenausschusses forderten die Grünen am Montag „schnellstmögliche Aufklärung“ darüber, warum es der Polizei vor einer Woche trotz erkennbarer Mobilisierung der rechten Szene zwei Tage lang nicht gelungen sei, mit ausreichend Kräften vor Ort zu sein.

Vor dem Open-Air-Konzert kritisierten CDU-Politiker die Unterstützung von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier für die Veranstaltung. „Ich halte das für sehr kritisch“, sagte Generalsekretärin Annegret Kramp-Karrenbauer der „Welt“ (Montag). Wie zuvor ihr Parteikollege Philipp Amthor monierte sie, dass Steinmeier die Ankündigung der Veranstaltung auf seinem Facebook-Account geteilt hatte. Der Verfassungsschutz in Mecklenburg-Vorpommern hatte die teilnehmende Punkband Feine Sahne Fischfilet zeitweise wegen „linksextremistischer Bestrebungen“ im Blick, seit längerem jedoch nicht mehr. In einem früheren Lied hatte sie Gewalt gegen Polizisten besungen. „Wenn man sich gegen Faschismus ausspricht und gegen Rassismus auf die Straße geht, ist man nicht gleich ein Linksextremist“, sagte Felix Monchi von Feine Sahne Fischfilet vor Konzertbeginn. Ohnehin gebe er nicht viel auf den Verfassungsschutz. „Das ist doch die Behörde, die den NSU mit ermöglicht hat.“

Laut Tote-Hosen-Sänger Campino sind die beteiligten Bands heftigen Anfeindungen im Internet ausgesetzt. Auf den Facebook-Seiten gebe es „immense Shitstorms“ gegen die Musiker, sagte Campino in Chemnitz. „Man muss schon ein dickes Fell haben, um zu sagen: Ich gehe trotzdem nach vorne.“

Am Rande des Konzertes sollten Spendengelder gesammelt werden. Nach Angaben der Organisatoren soll die Hälfte des Geldes der Familie des Getöteten zugute kommen, die andere Hälfte ist für antifaschistische, antirassistische und zivilgesellschaftliche Initiativen in Sachsen vorgesehen.

Vor dem Konzert hatte die Stadt Chemnitz zwei Gegenkundgebungen untersagt. Die fremden- und islamfeindliche Thügida wollte sich nahe dem Veranstaltungsgelände unter dem Motto „Gegen antideutsche Kommerzhetze“ versammeln. Begründet wurde die Absage damit, dass die Veranstaltungsfläche bereits belegt sei. Mit dem gleichen Argument wurde auch eine Kundgebung von Pro Chemnitz erneut vor dem Karl-Marx-Monument verboten.

Am Montag gab auch die Staatsanwaltschaft Neuigkeiten zu den Ermittlungen nach den tödlichen Messerstichen bekannt. Demnach haben der Iraker und der Syrer, die wegen gemeinschaftlichen Totschlags in U-Haft sitzen, zu den Tatvorwürfen ausgesagt. „Sie haben sich eingelassen“, sagte die Sprecherin der Staatsanwaltschaft Chemnitz, Ingrid Burghart. Zu den Einzelheiten machte sie jedoch keine Angaben. Es gebe bislang keine Erkenntnisse zum Anlass des Streits, der den tödlichen Messerstichen vorangegangen ist. „Nach gegenwärtigem Ermittlungsstand kann man lediglich ausschließen, dass eine Belästigung oder ausländerfeindliche Motive Auslöser der Tat waren“, sagte die Oberstaatsanwältin.

Nach den Protesten und Demons­trationen in Chemnitz gibt es bisher 51 Ermittlungsverfahren. Die Tatverdächtigen vom 26. und 27. August sind meist unbekannt. Die Delikte: Verwenden von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen wie den Hitlergruß, Körperverletzung und versuchte gefährliche Körperverletzung, Verdacht des Landfriedensbruchs, Beleidigung sowie gefährlichen Eingriffs in den Luftverkehr durch Blendung der Piloten von Polizeihubschraubern mit Laser-Pointern.

Unterdessen hat die Polizei in Dresden einen Mann festgenommen, der bei einer Pegida-Demonstration in Chemnitz Journalisten angegriffen haben soll. „Unsere Einsatzkräfte haben aktuell in Dresden anlässlich der dortigen Pegida-Demonstration einen Tatverdächtigen vorläufig festgenommen, der am Samstag in Chemnitz einen Journalisten angegriffen hat“, twitterte die Polizei Sachsen am Montagabend. Weitere Informationen lagen zunächst nicht vor.