Chemnitz/berlin.

Jahrelang war das rechte Lager in Deutschland zersplittert. Doch das ändert sich jetzt sichtbar: Die AfD sucht offensiv die Nähe zu Pegida, zu den Ultrarechten in Ostdeutschland. Knapp eine Woche nach den tödlichen Messerstichen und den ausländerfeindlichen Ausschreitungen in Chemnitz marschierten sie am Sonnabend Seite an Seite: Pegida-Gründer Lutz Bachmann, die AfD-Landesvorsitzenden Jörg Urban aus Sachsen, Björn Höcke aus Thüringen und Andreas Kalbitz aus Brandenburg und dazu das rechte Bündnis „Pro Chemnitz“. Zusammen brachten sie 8000 Menschen auf die Straße – bei den Gegenkundgebungen kamen am selben Tag laut Polizei 3000 Teilnehmer zusammen. Mindestens 18 Menschen wurden verletzt – darunter ein Kameramann des MDR. Dass nicht noch mehr passiert ist, lag auch am massiven Polizeiaufgebot: Anders als vor einer Woche wurden die sächsischen Beamten von Kollegen aus anderen Bundesländern und der Bundespolizei unterstützt.

Steht Chemnitz für den Start einer neuen rechten Sammlungsbewegung?

Für Beobachter der rechten Szene kommt der gemeinsame Marsch durch Chemnitz nicht überraschend: Im März hatte die AfD-Spitze beschlossen, dass AfD-Mitglieder künftig bei Kundgebungen des Pegida-Bündnisses auftreten dürfen. Es war der endgültige Abschied von einer Haltung, die bis dahin zumindest offiziell eine Brandmauer zwischen der Partei und dem ausländerfeindlichen Bündnis gezogen hatte. Besonders Björn Höcke, Frontmann des ultrarechten Flügels innerhalb der AfD, sucht die Nähe: Im Mai trat Höcke als Redner bei Pegida in Dresden auf, auch die AfD-Landesschefs von Sachsen und Brandenburg waren dabei.

Bundesjustizministerin Katarina Barley (SPD) forderte am Sonntag von den Ermittlern Aufklärung darüber, inwieweit rechtsextreme Netzwerke hinter den Demonstrationen und ausländerfeindlichen Ausschreitungen in Chemnitz stecken. „Wir dulden nicht, dass Rechtsradikale unsere Gesellschaft unterwandern“, sagte die SPD-Politikerin der „Bild am Sonntag“. Der Generalbundesanwalt beobachte die Entwicklungen in Chemnitz sehr genau und tausche sich mit den sächsischen Behörden eng aus. „Es geht darum herauszufinden, welche Organisationen hinter der Mobilisierung rechter Gewalttäter stecken“, so Barley.

Ändert die AfD ihre Strategie?

Die Partei profitiert von der aufgeheizten Stimmung: Die AfD legte nach den jüngsten Ereignissen in Chemnitz in der Wählergunst zu: Im Sonntagstrend, den Emnid für die „Bild am Sonntag“ erhebt, gewann die Partei einen Prozentpunkt gegenüber der Vorwoche und steht nun bei 15 Prozent. In den ostdeutschen Bundesländern liegt die Partei in Umfragen nahezu überall an zweiter Stelle. Für Parteichef Alexander Gauland gibt es daher keinen Grund, die Landeschefs auf ihrem ultrarechten Kurs zu bremsen. Im Gegenteil: „Wenn eine solche Tötungstat passiert, ist es normal, dass Menschen ausrasten“, rechtfertigte Gauland die ausländerfeindliche Hetze in Chemnitz.

Muss die AfD jetzt vom Verfassungsschutz beobachtet werden?

Die Bundesbürger wünschen sich das: Laut einer repräsentativen Umfrage im Auftrag unserer Redaktion ist eine Mehrheit der Deutschen dafür, die AfD vom Verfassungsschutz beobachten zu lassen. Auch aus den Reihen von CDU, SPD und Grünen kommt die Forderung. Innenminister Horst Seehofer (CSU) jedoch bremst: „Derzeit liegen die Voraussetzungen für eine Beobachtung der Partei als Ganzes für mich nicht vor“, sagte Seehofer unserer Redaktion. Auch Schleswig-Holsteins Ministerpräsident Daniel Günther (CDU) sprach sich dagegen aus. Eine Beobachtung durch den Verfassungsschutz würde dazu führen, „dass die AfD in eine Märtyrerrolle fällt“, sagte der Kieler Regierungschef unserer Redaktion. Weder stehe das dieser Partei zu, so Günther, „noch wäre dies hilfreich in der Auseinandersetzung mit radikalen politischen Kräften, gleich ob rechts- oder linksradikal“. Der Ministerpräsident appellierte stattdessen an die Bürger: „Nicht nur alle demokratischen Parteien, sondern jeder Demokrat ist aufgerufen, die politische Auseinandersetzung mit der AfD zu suchen.“

CDU-Sicherheitsexperte Patrick Sensburg dagegen erklärte im NDR-Radio, er sei schon lange der Meinung, dass die AfD vom Verfassungsschutz überwacht werden müsse. CDU-Innenexperte Armin Schuster hatte die Verfassungsschutzbehörden der Länder kürzlich aufgefordert, die AfD genauer unter die Lupe zu nehmen. Auch Unions-Fraktionschef Volker Kauder (CDU) ist alarmiert: „Rechtsradikalismus wird aus einer Bundestagspartei heraus mehr oder weniger offen unterstützt. Das ist schon eine neue besorgniserregende Qualität“, sagte er der „Welt am Sonntag“. Die Politik müsse sich deutlicher mit der AfD auseinandersetzen, „aus der heraus Beihilfe zum Rechtsradikalismus geleistet wird“. Grünen-Chefin Anna­lena Baerbock warnte: Die AfD habe offen zur Hetze in Chemnitz beigetragen. „Ihre Strukturen sind eng vernetzt mit denen der Rechtsextremen und Hooligans, die auf Menschen Jagd gemacht haben.“

Wie geht es in Chemnitz jetzt weiter?

Am Sonntag kam Chemnitz etwas zur Ruhe – dafür sorgte auch der Nieselregen. Erst gegen Abend wurde es wieder etwas voller: Die evangelische Kirche hatte zu einer friedlichen Kundgebung aufgerufen, an der auch Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) teilnahm. An diesem Montag ist es dann wieder vorbei mit der Ruhe: Auf dem Parkplatz an der Johanniskirche wird ab 17 Uhr ein kostenloses Konzert gegen Rassismus veranstaltet – initiiert von der Chemnitzer Musikgruppe Kraftklub. Die Bühne steht schon, das prominent besetzte Programm auch: Unter dem Motto „Wir sind mehr“ treten neben den Toten Hosen auch die Rapper Materia und Casper auf. Mehrere Tausend Menschen werden erwartet.

Wie gehen die Parteien mit der Lage in Chemnitz um?

Bundesaußenminister Heiko Maas (SPD) hat den Deutschen Bequemlichkeit im Kampf gegen Rassismus und bei der Verteidigung der Demokratie vorgeworfen. „Meine Generation hat Freiheit, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie geschenkt bekommen. Wir mussten das nicht erkämpfen, nehmen es teilweise als zu selbstverständlich wahr. Es hat sich in unserer Gesellschaft leider eine Bequemlichkeit breitgemacht, die wir überwinden müssen“, sagte Maas der „Bild am Sonntag“. Auf die rechtsextremen Aufmärsche in Chemnitz wurde Maas nach eigenen Angaben „sehr oft“ von seinen europäischen Kollegen angesprochen. Wenn es um Ausländerfeindlichkeit, Rechtsextremismus und Rassismus gehe, werde Deutschland zu Recht ganz besonders kritisch beäugt.

In der Debatte um seine umstrittenen Äußerungen zu den Vorfällen in Chemnitz erklärte FDP-Vize Wolfgang Kubicki, er werde sich nicht bei Kanzlerin Angela Merkel (CDU) entschuldigen: „Ich bin alles andere als ein Rechtspopulist. Wer mich kennt, weiß das auch.“ Kubicki hatte angesichts der rechtsex­tremen Ausschreitungen in Chemnitz gesagt: „Die Wurzeln für die Ausschreitungen liegen im ,Wir schaffen das‘ von Kanzlerin Angela Merkel.“ Kubicki erklärte nun: Merkel sei „mitnichten schuld daran, dass in Chemnitz der rechte Mob mit Hitlergruß durch die Stadt gezogen ist, Naziparolen brüllt und Menschen gejagt hat“. Richtig bleibe aber, dass die Bundesregierung mit ihrer Flüchtlingspolitik mitverursacht habe, dass die AfD stark geworden sei.