Berlin.

Die Region am Tschadsee ist ein Gebiet aus Wäldern, Wiesen, Sand und Wasser. Es ist der viertgrößte Süßwassersee Afrikas, im Ländereck von Niger, Nigeria, Tschad und Kamerun. Laut den Vereinten Nationen sind 2,3 Millionen Menschen in der Region auf der Flucht. Es sind Geschichten über Gewalt, Terrorismus und Klimawandel. Und darüber, wie das alles zu einer Flüchtlingskrise führt, die Christos Stylianides, EU-Kommissar für humanitäre Hilfe, als „eine der schwersten“ in ganz Afrika beschreibt.

Und doch: Kaum jemand in Europa hört je etwas von diesen Millionen Menschen am Tschadsee. Dabei erklärt die Krise wie kaum eine andere, warum Menschen fliehen müssen. Der Tschadsee bedeckte noch in den 1970er-Jahren ein Gebiet fast so groß wie Mecklenburg-Vorpommern. Heute zeigen Satellitenbilder, dass die Wasserfläche um 80 Prozent zurückgegangen ist. Anhaltende Dürre und fehlender Naturschutz ließen den Pegel schrumpfen. Viele Tausende Viehzüchter ließen ihre Tiere dort weiden, Fischer verdienten mit dem See ihr Geld. Dann kämpften die Hirten um das wenige Wasser für ihr Vieh, Fischfang brach ein, Tausende Menschen zogen weg, ins Landesinnere von Nigeria, Niger, Kamerun und Tschad. Dort stießen Hirten auf Ackerbauern – und kämpften um das Land.

Und wo Gewalt regiert und Armut wächst, breiten sich Terrorgruppen schneller aus. Irgendwann kontrollierte Boko Haram viele Teile des Tschadsees – brutale Islamisten. Manche Bewohner schlossen sich den Terroristen an, weil sie dort Sold, Frauen und Häuser bekamen. Andere flohen – meist nur ein paar Dörfer weiter oder in eines der vielen Flüchtlingscamps in der Region. Nach Europa flohen von den Menschen am Tschadsee nur wenige, jedenfalls anfangs. Die allermeisten Flüchtlinge bleiben in der Region, so auch hier, am Tschadsee. Fast die Hälfte der Vertriebenen sind Kinder. Auch sie landen oftmals über mehrere Jahre in Camps, in Familien in Nachbarstaaten – oder in den Händen von gewalttätigen Männern. Erst wenn sich über Jahre die Lage nicht bessert, fliehen die Menschen weiter: in den Norden – und wer genug Geld und Mut hat, bis nach Europa. Meist sind es Männer. Zurück bleiben zerstörte Dörfer und Familien.

Gemeinsam mit der Caritas oder dem Roten Kreuz ist auch die Kinderhilfsorganisation Plan International seit Jahren am Tschadsee aktiv, verteilt Essen und Medizin, sorgt für Betreuung durch Sozialarbeiter. In einer bisher unveröffentlichten Plan-Studie, die unserer Redaktion vorliegt, gab jedes fünfte Mädchen zwischen 10 und 19 Jahren in der Tschadsee-Region an, im vergangenen Monat geschlagen worden zu sein. Viele Mädchen würden die Schule abbrechen, weil sie „verheiratet, schwanger oder vergewaltigt werden“, berichtet ein Mädchen aus Kamerun.

Regierungen vor allem in Nigeria und Kamerun haben das Drama am großen See kaum beachtet, der Terror konnte wachsen. Nach Jahren befreiten Armeen weite Teile des Tschadsees von Terroristen – und kontrollieren den Zugang zum See. Experten sagen: Militärchefs und Staatsbedienstete verdienen kräftig mit. Im Schatten des Anti-Terror-Kampfes gedeiht Korruption.

Ab heute treffen sich Regierungen, Helfer und Forscher zu einer Geberkonferenz für den Tschadsee im Auswärtigen Amt in Berlin. Die Krise und der Terror bedrohten auch die „Sicherheit Europas“, sagte Außenminister Heiko Maas (SPD) unserer Redaktion. Dort spiele sich seit Jahren zudem „eines der größten humanitären Dramen unserer Zeit ab“. EU-Kommissar Stylianides kündigte anlässlich der Tagung mehr Geld der EU an, 232 Millionen Euro. 88,9 Millionen Euro davon seien für humanitäre Hilfe und 143 Millionen Euro für mehr Stabilität und Entwicklung. Auch Hussaini Abdu ist in Berlin, Direktor von Plan International in Nigeria. Es sei ein Muss, dass die Gemeinschaft Überlebenden von Gewalt helfe.