Brüssel.

Es wäre ein beinahe historischer Einschnitt in der Europapolitik: Erstmals seit über 50 Jahren könnte im kommenden Jahr wieder ein Politiker aus Deutschland an die Spitze der Europäischen Union rücken. CSU-Vize Manfred Weber steht offenbar kurz vor einer aussichtsreichen Kandidatur für das Amt des mächtigen EU-Kommissionspräsidenten.

Das Amt wird nächstes Jahr nach den Europawahlen vakant, Amtsinhaber Jean-Claude Juncker hat bereits angekündigt, nicht wieder kandidieren zu wollen. Schon vor Monaten hat Weber, der in der CSU als liberaler Pragmatiker gilt und derzeit die christdemokratische EVP-Fraktion im EU-Parlament anführt, vorsichtig Interesse an Junckers Nachfolge signalisiert. Dafür würde Weber gern die europaweite EVP-Spitzenkandidatur bei der Europawahl übernehmen – weil die EVP wahrscheinlich wieder stärkste Fraktion im Parlament wird, ist ihr Spitzenkandidat der Favorit für das Amt des Kommissionspräsidenten.

Jetzt wird der Plan konkret: Am Dienstag sprach Weber bei Angela Merkel im Kanzleramt vor, zur Verstärkung hatte er EVP-Chef Joseph Daul mitgebracht. Weber verließ die Regierungszentrale dem Vernehmen nach mit der Gewissheit, dass Merkel und die CDU-Spitze seine Spitzenkandidatur unterstützen würden – allerdings ohne die Garantie, dass er nach der Wahl wirklich Kommissionschef wird. Die Rückendeckung von CSU-Chef Horst Seehofer hat sich Weber längst geholt. In Brüssel wird damit gerechnet, dass er seine Kandidatur in den nächsten Wochen bekannt gibt, am kommenden Wochenende beraten die Spitzen von CDU und CSU über eine deutsche Bewerbung.

CDU-Grande und EU-Haushaltskommissar Günther Oettinger (CDU) legt sich für den 46-jährigen Niederbayern mächtig ins Zeug: Weber sei „kompetent, qualifiziert, erfahren und glaubwürdig und bestens geeignet für die Kandidatur“. Webers Vorteil: Er gilt in Brüssel nicht als rein deutscher Interessenvertreter – als Fraktionschef hat er sich ein breites Netzwerk aufgebaut und einen Ruf als ausgleichender Moderator.

Regierungserfahrung aber hat er nicht. In Brüssel stoßen Webers Ambitionen deshalb zum Teil noch auf Skepsis. Die Konkurrenz ist groß schon in der EVP: Wenn sie im November ihren Spitzenkandidaten bestimmt, dürften unter anderem Brexit-Chefunterhändler Michel Barnier und die früheren Regierungschefs Alexander Stubb aus Finnland und Enda Kenny aus Irland unter Webers Mitbewerbern sein.