Berlin .

Der Innenminister ist gut aufgeräumt, buchstäblich wie bildlich. Auf seinem Schreibtisch türmen sich keine Aktenberge. Horst Seehofer beteuert, dass er das Büro nur verlässt, wenn das Tageswerk vollendet, die letzte Vorlage gezeichnet ist. Zum Ende der Sommerpause stellte sich der CSU-Chef und Minister den Fragen unserer Redaktion.

Herr Minister, Jagd auf fremd aussehende Bürger, Demonstranten, die den Hitlergruß machen. Was sagen Sie zu den Bildern von Chemnitz?

Horst Seehofer: Ich verurteile zuallererst das Verbrechen, das zu einem Todesfall geführt hat. Das ist sehr schmerzlich. Ich verstehe, dass die Bevölkerung aufgewühlt ist. Trotzdem sind Gewalt und allein die Aufrufe dazu unter keinen Umständen gerechtfertigt. Da muss eine klare Trennlinie sein.

Sie haben Hilfe durch die Bundespolizei angeboten. Wie kann sie aussehen?

Das ist eine polizeitaktische Frage. Wenn die Bundespolizei in einem solchen Fall Einsatzkräfte entsendet, werden die unter der Führung des jeweiligen Landes eingesetzt. Aber schon eine höhere Polizeipräsenz ist beste Prävention.

Muss die Polizei im Umgang mit Rechtsex­tremisten besser geschult werden?

Da hat die Polizei mein volles Vertrauen.

… aber sie hat in Chemnitz davon abgesehen, sich Demonstranten zu greifen, die den Hitlergruß machten …

Ja, aber die Beamten hatten nicht die Absicht, diese Leute zu decken. Natürlich werden die angezeigt. Nur: Im konkreten Fall, bei einer Demonstration, zu der wesentlich mehr Menschen erscheinen als erwartet, muss ein Polizeiführer abwägen. Greift er ein, mit der Folge, dass die Lage eskaliert? Oder greift er sich die Gesetzesbrecher später, wenn die Situation sich beruhigt hat? Das sind einsatztaktische Fragen.

Was sind die Lehren aus Chemnitz, wenn Sie an die Sicherheit der Bürger denken?

Null Toleranz gegenüber dem Bruch von Recht und Ordnung. Es gibt bei aller Empörung keine Entschuldigung für Gewalt. Wir brauchen einen starken Staat. Politisch müssen wir alles tun, um die Polarisierung, die Spaltung unserer Gesellschaft zu überwinden. Das ist eine zentrale Botschaft des Koalitionsvertrags nach dem schlechten Wahlergebnis vor einem Jahr: Wir haben verstanden, es darf kein Weiter-so geben.

AfD-Fraktionschef Gauland sieht das anders, nennt die Krawalle in Chemnitz „Selbstverteidigung“. Verharmlost die AfD den Rechtsradikalismus, ist sie gar längst ein Teil davon?

Bei allem Verständnis dafür, dass die Menschen in Chemnitz und auch anderswo über das brutale Tötungsdelikt aufgebracht sind, verbietet es sich in einem Rechtsstaat, zu Gewalt aufzurufen. Allein der Staat hat das Gewaltmonopol, auch deshalb ist der Begriff Selbstverteidigung im Zusammenhang mit Gewalt kein passender Begriff. Ich empfehle daher allen politischen Kräften, die sich in der Verantwortung für unsere Demokratie und unseren Rechtsstaat sehen, sich von Aufstachelung und Gewaltanwendung deutlich zu distanzieren und von jeglichem Versuch einer Legitimierung Abstand zu nehmen.

Muss die AfD durch den Verfassungsschutz beobachtet werden?

Natürlich muss man immer genau hinschauen, und das tut der Verfassungsschutz, ob es sich bei Aussagen von Parteimitgliedern oder Zusammenarbeit mit bestimmten Gruppen um Einzelmeinungen oder parteipolitische Linie handelt. Derzeit liegen die Voraussetzungen für eine Beobachtung der Partei als Ganzes für mich nicht vor.

Ärgert es Sie, wenn der abgeschobene Gefährder Sami A. aus Tunesien zurückgeholt werden muss?

Meine Überzeugung ist, dass Gefährder nicht in Deutschland bleiben sollten. Wenn das richtig ist, muss ein Mann wie Sami A. außer Landes gebracht werden. Die Bevölkerung erwartet das auch von uns. Wenn nun ein Gericht eine geplante Abschiebung für rechtswidrig hält, hat man diese Entscheidung zu respektieren, ganz gleich, ob man sie nachvollziehen kann oder nicht. Ich konnte nie einsehen, dass jemand sich darauf beruft, dass er in einem Land nicht menschenwürdig behandelt wird, das die Bundesregierung für einen sicheren Herkunftsstaat erklären möchte, weil dort keine politische Verfolgung stattfindet.

Muss man ihn noch zurückholen, wenn die tunesische Regierung zusichert, dass sie ihn menschenwürdig behandelt?

Tunesien lässt derzeit den Mann nicht ausreisen. Das Auswärtige Amt bemüht sich darum, eine Zusicherung zu bekommen, dass er nicht gefoltert wird. Ich habe dazu auch mit dem tunesischen Innenminister telefoniert und ihn gebeten, auf die Verbalnoten zu antworten. Sami A. hat aus der Haft heraus Interviews gegeben, und inzwischen ist er sogar frei. Die Ausreise liegt allein in der tunesischen Hand.

Ein Grund für die Polarisierung der Gesellschaft ist die Migrationspolitik. Sie haben im Sommer einen Streit darüber losgetreten. Hat es sich gelohnt?

Es gab einen strittigen Punkt. Ich wollte Menschen, die schon in einem anderen EU-Land Schutz gefunden und Asyl beantragt haben, an der Grenze zurückweisen. Das sind relativ wenige. Dass dies eine solche erregte Debatte auslöst, habe ich bis heute nicht verstanden.

Sie sagen selbst: eine kleine Zahl. Der Preis war ein ganz bitterer Streit und ein Absturz in den Umfragen.

Mir ging es nicht um die Zahl, sondern um die Herstellung von Recht und Ordnung. Wenn ich und die CSU an allem schuld wären, müsste die SPD glänzend in den Umfragen dastehen, die CDU noch besser. Aber in Wahrheit haben wir im Moment auch zu dritt keine Mehrheit. CDU, CSU und SPD sind seit Monaten in schwierigem Fahrwasser. Das kann man nicht nur auf ein paar Wochen im Juni, Juli zurückführen.

Vielleicht hat nicht nur der Streit selbst irritiert, sondern der Stil, die Schärfe?

Schärfe? Alle wollen Diskussion in der Politik, aber wehe, sie findet statt.

Die Kanzlerin hat doch eine andere Sprache angemahnt.

Wenn es hart zur Sache geht, kann nicht jeder Satz von höchster diplomatischer Kunst sein.

Noch mal: Hat der Streit in der Sache geschadet oder genutzt?

Es hat in der Sache genutzt, weil wir vorwärtsgekommen sind. Wann hat es das jemals gegeben, dass die EU innerhalb von Tagen zu einem Thema zwei Gipfeltreffen abgehalten hat?

Das Ergebnis war: keine nationalen Alleingänge, stattdessen vertragliche Abmachungen. Wie nachhaltig ist das?

Abkommen haben zur Folge, dass es immer eine Gegenleistung geben muss – die Griechen erwarten, dass man ihnen bei der Familienzusammenführung hilft, die Italiener bei der Seenotrettung.

Ist es im Ergebnis ein Nullsummenspiel?

Wir kriegen durch die Maßnahme noch nicht die definitive Lösung der Zuwanderungsprobleme hin, das stimmt. Dass es zu Verhandlungen mit Spanien kam, haben die Regierungschefs vereinbart. Ich selbst habe klargemacht, dass ein Abkommen momentan keine besondere Relevanz hat. Den Flüchtling, der aus Spanien kommt, über Österreich nach Deutschland einreist, möchte ich sehen.

Hat Ihnen der Streit wenigstens für die bayerische Landtagswahl genutzt?

Das Thema Migration ist noch nicht so gelöst, wie die Bevölkerung das erwartet. Das muss man einfach sagen. Und es sind ganz dicke Bretter, die wir zu bohren haben. Wir haben mit dem Masterplan Migration ein Regelwerk vorgelegt, wir sind mitten bei der Umsetzung. Solange keine konkreten Ergebnisse sichtbar sind, wird die Bevölkerung skeptisch bleiben. Es zählt heute nur, ob und was die Politik liefert. Deshalb bleibt die Flüchtlingspolitik ein Thema. Aber naturgemäß spielen bei einer Landtagswahl auch andere Fragen eine Rolle.

Was kann die CSU erreichen?

Für die CSU ist alles möglich, auch die Verteidigung der absoluten Mehrheit. Wir dürfen uns nicht verunsichern lassen. Es wird ein ganz große Herausforderung, weil viele Menschen sich erst zuletzt entscheiden, ob und wen sie wählen. Bayern steht prächtig da, wir haben einen wirklich guten Ministerpräsidenten. Unser Problem ist das Aufkommen der AfD.

Könnte sie je ein Partner sein?

Nein, nein, nein. Wer politisch so sozialisiert worden ist wie ich, bekämpft alle politischen Kräfte, die eine Spaltung unserer Gesellschaft vorantreiben, anstatt sie zu überwinden. Das gelingt mit der vernünftigen Lösung der Migrationsfrage, aber auch mit der richtigen Sozialpolitik.

Die CDU diskutiert über ein soziales Dienstjahr. Was halten Sie davon?

Erst mal halte ich die Aussetzung des Grundwehrdienstes für geboten und richtig. Ich will ihn nicht wieder einführen. Zum sozialen Dienstjahr sagen die einen, „endlich ein konservatives Thema“, die anderen halten uns vor: „Ihr seid ja ganz verrückt.“ Ich bin sehr dafür, über ein soziales Dienstjahr vernünftig und ergebnisoffen zu diskutieren. Es stellen sich viele Fragen: Was bedeutet der Vorschlag für die Frauen, die heute immer noch im Nachteil sind, weil sie die Hauptlast in den Familien tragen? Was bedeutet er für die Qualität der Versorgung von Pflegebedürftigen? Sie sehen, ich bin da nicht festgelegt. Aber ich halte den Anstoß der CDU für diskussionswürdig.