Berlin/Chemnitz.

Sie hat weiße Rosen mitgebracht, die legt sie dort nieder, wo in der Nacht zu Sonntag der 35-jährige Daniel H. niedergestochen wurde. Franziska Giffey ist das erste Mitglied der Bundesregierung, das nach den Vorfällen dieser Woche Chemnitz besucht. Als Angelas Merkels Minister am Mittwoch im Kabinett noch überlegten, wer hinfahren könnte, hatte Giffey bereits für diesen Freitag einen Termin mit Bürgermeisterin Barbara Ludwig ausgemacht. „Wir müssen Gesicht zeigen“, sagt die SPD-Politikerin. Die Menschen dürften nicht „das Gefühl haben, dass sie allein sind“. Ein Satz, der nicht nur für Chemnitz gilt.

Wer Giffey in diesen Tagen beobachtet, erlebt eine Ministerin, die ein großes Talent dazu hat, Gesicht zu zeigen. Und die dabei erstaunlich gut ankommt. Morgens begeistert sie eine Truppe junger Fußballfans, mittags entzückt sie dreijährige Kita-Kinder und abends rockt sie einen ganzen Saal mit Frankfurter Bildungsbürgern. Giffey gelingt das, weil sie eine schlichte Wahrheit beherzigt: Versteck dich nicht hinter Politikerformeln, sondern sag, was Sache ist. Die ehemalige Bezirksbürgermeisterin von Berlin-Neukölln hat ihren Kiez verlassen, aber ihren Stil behalten: mal schnoddrig, mal fürsorglich – aber immer so, dass die Leute nachher denken: „Mensch, die war aber erfrischend!“

Giffey berlinert heftig, wenn sie will. Und sie will oft: Weil sie damit das Eis schmelzen kann – zwischen der Bundesministerin und den Leuten, für die sie Politik machen will. „Hingehen, zuhören, handeln“ – das ist ihr Mantra, nicht erst seit sie vor knapp einem halben Jahr Familienministerin geworden ist. In der SPD gilt sie deswegen als Hoffnungsträgerin, viele sehen in ihr einen Politikertyp, der schaffen kann, was vielen nicht mehr gelingt: zum Wähler durchdringen. Doch auch das gehört zur Wahrheit: Viele im Land kennen die Frau, die mit ihrem Mann und ihrem kleinen Sohn in Berlin lebt, überhaupt nicht.

Leon zum Beispiel, 16 Jahre alt, Teilnehmer des Demokratieprojekts von DFB-Pokalsieger Eintracht Frankfurt. Giffey ist im Zuge ihrer Sommerreise durch Deutschland am Donnerstag zu Besuch gekommen. „Ich habe sie gestern erst gegoogelt“, sagt der Junge und blickt aufmerksam zu der Frau im roten Kostüm rüber, die gerade ins Eintracht-Trikot geschlüpft ist. In der hektisch organisierten Talkrunde mit den Jugendlichen redet sie nicht lange um den heißen Brei: „Was ist mit Mobbing? Redet ihr über sowas?“, fragt sie. Es geht um Respekt, Toleranz und darum, was der Sport dazu beitragen kann. Man kann sich Giffey auch gut als Lehrerin vorstellen – eine von denen, die aus jedem Schüler sein Bestes herauskitzeln wollen. „Die interessiert sich wirklich“, sagt Eintracht-Vorstand Axel Hellmann nachher. „Von solchen Politikern wünscht man sich mehr.“

Zuhören ist das neue Zauberwort in der deutschen Politik. „Es ist immer gut, wenn die Politik mal rausgeht“, sagt Giffey, manchmal sagt sie sogar „jut“ statt „gut“. In dieser Woche ist Giffey viel unterwegs. Sie hockt auf Kitastühlen, spricht mit Alleinerziehenden und Leuten, die sich gegen die Ausbreitung rechter Gruppen in ihrem Ort wehren. Dass die 40-Jährige auch Säle mit westdeutschen Bildungsbürgern zum Jubeln bringen kann, zeigt sich bei der Eröffnung der Ausstellung zu 100 Jahren Frauenwahlrecht in Frankfurt: Sie beklagt wie ihre Vorgängerinnen, dass in den Vorständen der Unternehmen immer noch 94 Prozent Männer sitzen. Aber sie hat eine Pointe: Eine Studie, erzählt Giffey, habe herausgefunden, dass nicht nur fast ausschließlich Männer die Chefposten besetzen – „sie heißen auch noch fast alle Thomas oder Michael.“ Pause. „Echt jetzt!“

Giffey wirbt für ihr Gute-Kita-Gesetz, bei dem der Bund 5,5 Milliarden Euro in bessere Betreuungsqualität und niedrigere Elternbeiträge stecken will. Sie wirbt auch für Demokratieprojekte und mehr Anerkennung für soziale Berufe. Nur ein Wort nimmt sie dabei kaum in den Mund: SPD. Es scheint fast so, als wolle sie am liebsten gar nicht an ihre Partei erinnert werden. Zu Spekulationen, sie könne die nächste regierende Bürgermeisterin in Berlin werden, bleibt sie wortkarg. Und dass sie nicht ständig für die SPD wirbt und auf die CDU eindrischt? Nun, da windet sie sich heraus: Es sei doch wohl klar, dass sie alles, was sie tue, als Sozialdemokratin tue. Doch der Eindruck bleibt, dass hier jemand versucht, möglichst nicht mit quälenden Dingen in Verbindung gebracht zu werden: nicht mit der Krise der SPD, nicht mit dem Gezänk in der Koalition. Giffey macht SPD-Politik ohne SPD-Etikett.

Dabei könnten die Genossen einiges von ihr lernen: Giffeys Stil, diese direkte, barrierefreie Sprache, klingt wie das Gegenmittel zu der bitteren Diagnose, die sich die SPD nach dem letzten Bundestagswahlkampf gestellt hat. In der Fehleranalyse heißt es klar: Die Sozialdemokraten reden über die Köpfe der Menschen hinweg. Zu hölzern, zu technokratisch, zu lahm. „Wir müssen an unserer Sprache arbeiten. Wir haben das viel zu sehr vernachlässigt“, sagt Giffey unserer Redaktion. „Es hilft nichts, gute Politik zu machen, wenn die Leute gar nicht verstehen, was wir vorhaben.“ Als ersten Schritt hat Giffey das „Kita-Qualitätsentwicklungs-Finanzierungsgesetz“ in „Gute-Kita-Gesetz“ umbenannt. „Wenn man für gute Politik gute Begriffe findet, dringt man viel besser zu den Menschen durch.“

Giffey hat ihre Leute gebeten, gut auf sie aufzupassen: dass sie so bleibt wie sie ist. Dass sie nicht abhebt, keine Allüren entwickelt. Oder plötzlich nur noch Hochdeutsch spricht. Doch die Sache ist riskant: „Was zunächst Authentizität, Alltagsnähe und eine gewisse Durchdringungsdichte suggerierte, erschien, je länger desto phrasenhafter und gestanzter, leblos und abstrakt.“ Der Satz aus der Wahlanalyse bezieht sich auf Martin Schulz, nicht auf Giffey. Auch Schulz war am Anfang so beliebt, weil er authentisch wirkte. Doch das verpuffte. Schon fragen die ersten, was Giffey eigentlich erreicht habe. Das Gute-Kita-Gesetz soll jetzt immerhin im September ins Kabinett kommen. Es wäre ihr erster großer Erfolg als Ministerin.