Chemnitz.

Margit R. wollte noch einkaufen gehen am Sonnabend, sie fährt ins Chemnitz-Center, etwas außerhalb. Im Bus zurück in die Stadt fällt der 61-Jährigen auf, dass sie die einzige Deutsche ist. Sie hat nichts gegen Migranten, sie arbeitet als Lehrerin mit vielen von ihnen in Deutschkursen. Sie kennt ihre Geschichten, weiß, dass man nicht „alle über einen Kamm scheren kann“. Aber es gebe auch Asylbewerber, die an den Haltestellen oder vor McDonald’s herumstünden, laut seien, die am Karl-Marx-Denkmal säßen und nichts zu tun hätten. „Ich dachte einfach“, sagt sie, „wer weiß, ob das gut geht heute Abend.“

Es ist nicht gut gegangen in Chemnitz. Am Sonnabend war Stadtfest, die ganze Innenstadt war in ein Festivalgelände verwandelt worden. Riesenrad, gebrannte Mandeln, Äpfel mit roter Glasur. Die Stadt feierte 875-jähriges Bestehen und wollte sich mit diesem Fest auch als Europäische Kulturhauptstadt bewerben für 2025. Das Motto der Bewerbung lautet: „Aufbrüche“. Doch in der Nacht zum Sonntag wird in der Innenstadt, nicht weit vom berühmten Denkmal für Karl Marx entfernt, der zu DDR-Zeiten Namensgeber der Stadt war, ein Mann erstochen. Ein Deutscher, 35 Jahre alt. Der MDR berichtet, er habe in Chemnitz bei einem Verein zur beruflichen Förderung vor vier Jahren seine Lehre abgeschlossen.

„Das System ist am Ende, wir sind die Wende“, brüllen sie

Wie die Behörden am Montag mitteilen, sind ein 23 Jahre alter Syrer und ein 22-jähriger Iraker tatverdächtig. Sie sollen nach einem Streit mehrfach auf ihr Opfer eingestochen haben. Was genau der Auslöser war, ist noch unklar. Gemeinschaftlicher Totschlag lautet der Tatvorwurf, ein Richter erlässt Haftbefehle. Die Generalstaatsanwaltschaft in Dresden übernimmt die Ermittlungen.

Doch zuvor spielen sich in Chemnitz Szenen ab, die wieder einmal die ganze Republik in Aufruhr versetzen und international Wellen schlagen. Denn am Sonntag ziehen rund 800 Menschen durch die Stadt, einige von ihnen skandieren fremdenfeindliche Parolen und greifen Personen an, die sie für Ausländer halten. Mindestens 50 gewaltbereite Demonstranten sind darunter. Nach der Tat mobilisieren die rechte Szene und Hooligans aus dem Umfeld des Fußballklubs Chemnitzer FC über soziale Medien in Windeseile ihre Anhänger. Im Netz sind Videos zu sehen, auf denen Menschen „Das! Ist! Unsere Stadt!“ oder „Raus hier“ in Richtung von Ausländern brüllen, die zufällig am Straßenrand stehen. Einige werden verfolgt. Drei Geschädigte haben bislang Anzeige erstattet. Einer 15-jährigen Deutschen, die mit ihrem 18-jährigen afghanischen Bekannten unterwegs ist, wird das Handy aus der Hand geschlagen. Beide werden leicht verletzt. Ein Syrer wird auf offener Straße geschlagen, die Polizei hat den Angreifer identifiziert. Ein 30 Jahre alter Bulgare wird bedroht.

Die Polizei, die sich auf ein friedliches Familienfest in der City eingestellt hat, ist zunächst überfordert. Wer die Bilder sieht, in denen Wutbürger und Rechte durch Chemnitz marschieren, hat fast den Eindruck, als bräche sich hier eine größere Bewegung Bahn, die sobald keine Ruhe mehr geben wird. „Das System ist am Ende, wir sind die Wende“, brüllen die Männer und Frauen auf der Spontan-Demonstration.

Sachsens CDU-Ministerpräsident Michael Kretschmer nennt es am Tag danach „widerlich“, wie Rechtsextreme Stimmung machten und zur Gewalt aufriefen. „Wir lassen nicht zu, dass das Bild unseres Landes durch Chaoten beschädigt wird.“ Sachsens Innenminister Roland Wöller (CDU) bezeichnet die Zustände in Chemnitz als unerträglich. „Wir haben Spekulationen, wir haben Mutmaßungen, wir haben Falschmeldungen und regelrechte Lügen im Netz.“ Hilflosigkeit schwingt da mit.

Immer wieder Sachsen. Heidenau, Bautzen, Clausnitz, die Liste gewalttätiger Angriffe gegen Flüchtlinge im Freistaat ist lang und düster. In Zwickau konnte die rechtsextreme Terrorgruppe NSU jahrelang unbemerkt untertauchen und ihre Mordserie vorbereiten. In Dresden marschiert montags Pegida, bei der Bundestagswahl lag die AfD in Sachsen knapp hinter der CDU, die seit der Wende als „Staatspartei“ den wirtschaftlich prosperierenden Freistaat regiert, wo 2019 gewählt wird. Der AfD-Bundestagsabgeordnete Markus Frohnmaier, Ex-Sprecher der heutigen Fraktionsvorsitzenden Alice Weidel, ruft nach der tödlichen Messerattacke in Chemnitz bei Twitter zur Selbstjustiz auf. Die sächsische AfD distanziert sich davon.

Die klarsten Worte findet in Berlin Regierungssprecher Steffen Seibert. „In Deutschland ist kein Platz für Selbstjustiz, für Gruppen, die auf den Straßen Hass verbreiten wollen, für Intoleranz und für Extremismus“, sagt Seibert im Namen der Kanzlerin. „Solche Zusammenrottungen, Hetzjagden auf Menschen anderen Aussehens, anderer Herkunft, oder der Versuch, Hass auf den Straßen zu verbreiten, das nehmen wir nicht hin, das hat bei uns in unseren Städten keinen Platz.“

Auch am Montagabend bleibt es nicht lange friedlich in der Chemnitzer Innenstadt. Mehrere tausend Menschen sind nach Angaben der Polizei zu Protestdemonstrationen in die Stadt gekommen. Die Brückenstraße, an der das Attentat passierte, ist von den Demonstranten der Bewegung „Pro Chemnitz“ für ihre Demonstration reserviert. Gegenüber, in dem Stadthallenpark, stehen linke Demonstranten. Die Sprechchöre sind auf beiden Seiten weit zu hören: „Nazis raus“ von links „Deutschland den Deutschen — Ausländer raus“ von rechts. Die Polizei fährt auch Wasserwerfer auf, um die Gruppen getrennt zu halten. Es gibt Würfe von Flaschen und Feuerwerk von beiden Seiten. Gegen 20 Uhr droht kurzzeitig eine Eskalation, als eine Frau von einer Flasche getroffen wird und von Sanitätern behandelt werden muss. Die Polizei spricht von mehreren Verletzten. Doch als die Demonstration der Rechten loszieht, wird es ruhiger — fast gespenstisch still, weil außer den Sprechchören („Merkel muss weg“ und „Wir sind das Volk“) fast niemand spricht. Es soll ein Trauermarsch sein.

Unter den Demonstranten von „Pro Chemnitz“ mischten sich immer wieder auch Vermummte, die in kleinen Gruppen auftraten. „Wir sind autonome Nationalisten“, sagt einer von ihnen. „Wir haben uns gegründet, um der Antifa nicht schutzlos ausgeliefert zu sein.“ Sie tragen Knüppel bei sich und treten aggressiv und sehr schnell auf, laufen mitten unter den Demonstranten in kleinen Gruppen und geben einander Signale. Als während des Rundgangs durch die Stadt eine Flasche aus einem Haus auf die Menge fliegt, stürzen sofort mehrere der Vermummten in Richtung des Hauses und tauchen nicht wieder auf. Gefunden haben sie den Täter nicht, heißt es später.

Ganz am Ende des Rundgangs macht einer der Vermummten plötzlich auf sich aufmerksam. Er schreit am Tatort, dort wo der Mann in der Nacht zum Sonntag erstochen wurde, plötzlich sehr laut: „Hier ist jemand gestorben! Wie könnte ihr da so ruhig sein!“ Er sagt, er kannte ihn. Mehrere Freunde des Opfers kommen auf ihn zu und beruhigten den vermummten Mann. Mitten zwischen den Kerzen liegen Briefe, Blumen, ein Skat-Spiel und eine Flasche Bier.

Der Rundgang endet, wo er begonnen hat: Am Karl-Marx-Denkmal. Die Abschlusskundgebung hält Wilhelm Wenzel aus Königsberg. Er will in „seine alte Heimat“ zurückkehren, sagt er, man dürfe ihn ruhig einen „Nazi“ nennen. „Dann aber Generalnazi!“

Aber viele hören schon nicht mehr zu. Eine Gruppe von Demonstranten fragt sich, ob sie gehen sollen. Da sagt einer: „Nein, jetzt geht’s doch erst los, Linke finden!“