Kutupalong . Vor einem Jahr flohen die Rohingya vor Massakern nach Bangladesch. Jetzt bedroht der Monsun die Menschen im größten Flüchtlingslager der Welt

    „Mein Vater lief vor mir, meine Mutter hinter mir. Die Soldaten haben erst meinen Vater erschossen, dann meine Mutter. Dann bin ich gerannt.“ Als Bushra ihre Geschichte erzählt, wendet Biplob Sharker sich ab. Der 47-Jährige möchte nicht, dass die Zehnjährige sieht, dass er weint.

    Bushra ist eines der Tausenden Waisenkinder von Kutupalong, Sharker einer der Tausenden Helfer im größten Flüchtlingslager der Welt. Fast eine Million Rohingya leben in Bangladesch. Die meisten flohen vor einem Jahr vor Massakern an der muslimischen Minderheit aus dem buddhistischen Myanmar. Nun sitzen sie in überfüllten Flüchtlingslagern im Nachbarland fest. Traumata, Perspektivlosigkeit und der Monsun verschärfen die schon jetzt katastrophale Lage.

    Jeden Tag kommen in dem Lager 60 Babys zur Welt

    „Die Kinder haben oft Stöcke aufeinander gerichtet und ,Massaker’ gespielt. So haben sie versucht zu verarbeiten, was sie gesehen haben“, sagt Biplob Sharker, der in Kutupalong traumatisierte Waisenkinder behandelt. Er weiß nicht, ob er bei Bushra Erfolg haben wird.

    Mohammed hat seine Eltern noch. Doch auch der Elfjährige mit dem Downsyndrom hat miterleben müssen, wie Menschen geschlagen, gedemütigt und getötet wurden. Aus Angst, dass Soldaten ihr Haus überfallen könnten, harrte er mit seinen Eltern und seinen Geschwistern wochenlang im Dschungel aus. Mohammeds Vater Ahmed Mukter beschloss, mit seiner Familie zu fliehen, nachdem sein Cousin und ein Nachbar erschossen wurden. Seine Frau war damals im sechsten Monat schwanger und erwartete ihr siebtes Kind. Als ihre Brust keine Milch mehr gab, gab sie ihrem fünf Monate alten Sohn in Regenwasser aufgelösten Zucker. Nach einer Woche erreichten sie völlig ausgezehrt Kutupalong. Ahmed ist glücklich, dass seine Familie jetzt in Sicherheit ist. Und er ist wütend. „Aung San Suu Kyi hat den Friedensnobelpreis bekommen. Aber sie lässt zu, dass die Muslime in ihrem Land abgeschlachtet werden. Sie hat den Preis nicht verdient“, schimpft er über Myanmars berühmte Regierungschefin, während der Monsun-Regen auf das Dach der kleinen Hütte prasselt.

    Anfang Juni gab es Gespräche zwischen den Vereinten Nationen und Myanmar. Dabei kam eine vage Erklärung heraus, dass Myanmar Flüchtlinge zurücknehmen würde. Doch die Geflohenen wollen nach den Massakern, die Menschenrechtler als ethnische Säuberungen bezeichnen, nicht zurück. „Sie wollen uns ausrotten. Ich sterbe lieber in diesem Lager als zurückzugehen“, sagt die 60-jährige Sahara Khatun, die mit ihrem Sohn und ihrer Enkelin nach Kutupalong floh.

    Jeden Tag kommen im Lager rund 60 Babys zur Welt. Unter ihnen sind auch ungewollte Kinder von Frauen, die in Myanmar vergewaltigt wurden. Im Camp wird es so jeden Tag enger. Dass das arme Bangladesch, das am dichtesten besiedelte Flächenland der Welt, die Flüchtlinge nicht auf Dauer beherbergen will und die Rohingya nicht zurückwollen, stellt Helfer vor große Herausforderungen. Damit aus dem provisorischen Lager keine permanente Millionenstadt wird, erlaubt die Regierung Bangladeschs dem Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen und den rund 100 im Lager tätigen Hilfsorganisationen nur, Hütten aus Plastikplanen und Bambus zu errichten. „Wir dürfen nur an den Symptomen herumdoktern“, sagt Zia Choudhury, Landesdirektor der Hilfsorganisation Care in Bangladesch. Dabei würden er und seine Kollegen den Geflüchteten unter anderem durch Beschäftigungsprogramme gerne langfristige Perspektiven ermöglichen. Doch internationale Geber und die Regierung von Bangladesch sehen das kritisch. „Längerfristige Lösungen in den Lagern könnten an Myanmar das verheerende Signal senden: Vertreibt die Menschen ruhig. Wir kümmern uns schon“, bringt Care-Mitarbeiter Choudhury das Dilemma auf den Punkt.

    Die Leidtragenden sind die Flüchtlinge. Die Monsun-Zeit hat begonnen, und viele der Hütten halten den heftigen Regenfällen und Stürmen schon jetzt nicht mehr Stand. „Plötzlich gab es ein furchtbares Geräusch, dann steckten wir bis zum Hals im Schlamm. Ich habe kaum noch Luft bekommen. Aber irgendwie musste ich Habibas Kopf hochhalten, damit sie nicht erstickt“, berichtet Rokeya Begum.

    Mehrere Kinder starben bei Erdrutschen

    Mit ihrer eineinhalbjährigen Tochter Habiba saß sie in ihrer Hütte, als der Hang oberhalb ihrer Notunterkunft nach stundenlangem Regen plötzlich abrutschte und die Mutter und das Kind unter sich begrub. Andere Flüchtlinge befreiten sie mit Schaufeln und bloßen Händen. Doch die Angst bleibt. „Als wir verschüttet wurden, dachte ich, dass wir sterben müssen. Und unsere neue Hütte steht am Fuß eines steilen Hangs. Wenn es nachts regnet, kann ich vor Sorge kaum schlafen“, sagt die junge Mutter.

    Bevor Hunderttausende Flüchtlinge den Grenzfluss zwischen Myanmar und Bangladesch überquerten, waren die Hügel von Kutupalong bewaldet, wilde Elefanten durchstreifen den Dschungel. Mittlerweile sind die Hügel kahl. Wo einst Bäume standen, stehen jetzt Hütten.

    Weil die Flüchtlinge auf der Suche nach Feuerholz auch die Wurzeln ausgruben, halten selbst Hunderttausende Sandsäcke, in den Boden gerammte Stämme und große Planen Sand und Lehm an den steilen Hängen kaum noch zurück. Tausende besonders gefährdete Hütten mussten bereits umgesiedelt werden. Trotzdem sind bereits mehrere Kinder bei Erdrutschen ums Leben gekommen, Dutzende wurden verletzt. Und die schlimmsten Regenfälle werden noch erwartet. Care-Camp-Manager Rafiquzzaman: „Momentan versuchen wir, die Menschen durch Umsiedlungen und den Bau von neuen Latrinen und Brunnen auf den Höhepunkt der Monsun-Saison vorzubereiten. Es ist ein Wettlauf gegen die Zeit. Denn wenn Überschwemmungen das Trinkwasser kontaminieren, könnten Seuchen ausbrechen.“