Frankfurt (Oder).

„Willst du nicht dein Jackett ausziehen?“ Michael Möckel schaut dem Mann entgegen, der im blauen Anzug aus dem Rathaus kommt. Man ahnt, was in Möckel vorgeht. Es ist warm, er selbst ist ohne Jacke unterwegs. Wäre es da nicht besser, wenn sie beide auf dem Foto ohne Jackett auftauchten? Oder ist es okay, wenn der CDU-Mann im offenen Hemd und der Linke im eleganten Anzug...? Doch die Zeit drängt, das Jackett bleibt an – und so entsteht ein Bild, das viel erzählt über dieses ungewöhnliche politische Paar: Zwei, die gerade erproben, wie es ist, nicht dem gängigen Bild zu entsprechen.

Michael Möckel und René Wilke kennen sich schon aus der Schule. Sie duzen sich immer noch – und sie wagen, was viele in den oberen Parteietagen argwöhnisch beäugen: Sie ziehen an einem Strang. „Er ist kein Kommunist, ich bin kein Kommunistenfresser“, sagt Möckel. „Wir vertrauen einander, wir wissen, dass man sich nicht aufs Kreuz legt.“

Möckel ist Buchhändler, er wird nächstes Jahr 40, seit drei Jahren ist er Parteichef der CDU in Frankfurt (Oder). Und er sagt über sich und Wilke, den neuen Oberbürgermeister von der Linken: „Beziehungen funktionieren am besten, wenn man sich schätzt, achtet, vertraut und respektiert.“ Das Vertrauen ist gegenseitig: „Wir mögen uns“, sagt Wilke. Er hat der CDU das Amt des ersten Beigeordneten und Bürgermeisters angeboten. Das zweitwichtigste in der Stadt. Es ist keine formale schwarz-dunkelrote Koalition. Aber es ist ein Arbeitsbündnis.

Sieht so die Zukunft aus? Wenn Wahlergebnisse die Parteien zu neuen Partnerschaften zwingen, wenn unideologische Linke oder pragmatische CDU-Leute die Gegner von gestern zum Partner von heute machen wollen? Es gab noch nirgendwo eine Koalition aus CDU und Linker in einer Landesregierung. Aber immer wieder lokale Annäherungsversuche. Im brandenburgischen Landkreis Teltow-Fläming gibt es eine linke Landrätin mit einem Kämmerer von der CDU, in Cottbus gab es sogar schon mal einen gemeinsamen Kandidaten für die Oberbürgermeisterwahl.

„Die Leute wollen, dass wir einen guten Job machen“

Seit Daniel Günther, Ministerpräsident von Schleswig-Holstein, laut über Bündnisse zwischen CDU und Linker nachgedacht hat, steht die Frage wieder im Raum: Funktioniert das? Und wenn ja, was sagen diejenigen dazu, die es bereits ausprobieren?

Zum Beispiel hier, in Frankfurt an der Oder, knapp 100 Kilometer von Berlin entfernt. Im Frühjahr 2018 haben die Frankfurter Wilke zum neuen Oberbürgermeister gewählt, in der Stichwahl bekam er mehr als 62 Prozent. Auch die Grünen hatten Wilke unterstützt – mit 34 Jahren ist er jetzt der jüngste Oberbürgermeister in Brandenburg. An seinem ersten Tag nach dem Sommerurlaub sitzt Wilke in seinem Büro im Rathaus. „Ich bin kein Parteisoldat, ich bin Oberbürgermeister“, sagt er, um zu erklären, warum er es vollkommen selbstverständlich findet, der CDU so viel von der Macht abzugeben. Er will die CDU-Wähler einbinden und breite Zustimmung organisieren. „Die Leute wollen keine Ritualschlachten. Sie wollen, dass wir einen guten Job machen.“ Frankfurt hat nach der Wende ein Drittel seiner Einwohner verloren, die 60.000 Menschen, die geblieben sind, leben in einer Stadt, der man ansieht, dass sie nicht zu den reichsten gehört. Wilkes Hoffnung: Dass die gemeinsame Politik so erfolgreich ist, dass die Leute überhaupt nicht mehr auf die Idee kommen, aus Protest die AfD zu wählen.

CDU-Chef Möckel sieht das ähnlich. Er ist aus seinem Buchladen ins Café an der Oder-Promenade gekommen, auf der anderen Seite des Flusses beginnt Polen. Für ein schnelles Foto mit Wilke hat es gereicht, aber für ein gemeinsames Gespräch mit der Presse? Das könnte dann doch falsch verstanden werden, glaubt Möckel. Er weiß, dass es für viele CDU-Anhänger im Osten nicht vorstellbar ist, in den Linken mögliche Partner zu sehen. Fast 30 Jahre nach der Wende ist die Linke für viele immer noch nichts anderes als die SED-Nachfolgepartei.

Auch Möckel hätte allen Grund dazu, Abstand zu halten. Die Stasi, erzählt er, ließ seinen Großvater wegen eines einzigen regimefeindlichen Satzes für anderthalb Jahre in Bautzen einsperren. „Es kommt aber darauf an, mit wem man es heute zu tun hat“, wendet Möckel den Blick nach vorne. „Wilke zum Beispiel beschönigt nichts an der DDR, er relativiert nichts.“ Der neue Oberbürgermeister ist Jahrgang 1984. Er sagt über sich: „Mir kann man die DDR-Geschichte nicht mehr anlasten. Ich habe nicht in Windeln Leute bespitzelt.“ Auch das hilft, um ihn bei den CDU-Leuten salonfähig zu machen.

Im Osten wird es schwer, ohne Linke oder AfD zu regieren

Dazu kommt: In vielen Fragen sind CDU und Linke in dieser Stadt gar nicht so weit auseinander. „Die Linken haben doch inzwischen längst verstanden, dass wir Unternehmer brauchen, die ein Risiko eingehen, hierherkommen und Arbeitsplätze schaffen“, glaubt Möckel. Und umgekehrt habe die CDU von den Linken gelernt, wie gefährlich es sei, wenn sich die Welten der Wohlhabenden und der Abgehängten immer weiter voneinander entfernen. „Und dass wir noch stärker darauf achten müssen.“

Im letzten Jahr hat Möckels Parteifreund Claus Junghanns zusammen mit René Wilke und der Grünen-Politikerin Alena Karaschinski, die das Frankfurter Wahlkreisbüro von Grünen-Chefin Annalena Baerbock leitet, 19 Thesen für gute Politik aufgeschrieben. Erste These: „Frankfurt ist unsere Stadt. Hier ist noch nicht alles fertig. Wir sind hier noch nicht fertig.“ Zweite These: „Wir haben die Wahl, worauf wir uns konzentrieren: unsere Vergangenheit oder unsere Zukunft, unsere Unterschiede oder unsere Gemeinsamkeiten.“ Achte These: „Parteien sind wie Kleingartenvereine: Es gibt Hierarchien, Regeln, Konflikte, Befindlichkeiten, Querulanten, Entscheidungen, Mehrheiten und Minderheiten.“

Querulanten? Befindlichkeiten? Für die CDU-Spitze in Berlin ist die Debatte über Bündnisse mit der Linken in jedem Fall heikel. Denn sie wissen: Wenn die CDU jetzt sogar mit der Linkspartei flirtet, läuft sie Gefahr, ihre Stammwähler endgültig zu verprellen. Es gibt schließlich unüberbrückbare Differenzen: Die Linke will die NATO auflösen, Hartz IV abschaffen und das Ehegattensplittung beenden - absurd in den Augen der CDU. Im Adenauerhaus wissen sie aber auch, dass es bei den kommenden Wahlen im Osten schwer sein wird, Koalitionen gegen Linke und AfD zu bilden. Und dass viele Linke im Osten durchaus verlässliche Regierungspartner sein können.

Möckel beeilt sich daher auch zu sagen, dass er große Zweifel hat, ob es je zu formalen Koalitionen von CDU und Linken in den Ländern kommen wird. „Aber das heißt nicht, dass man von vornherein Gespräche verweigert“, schiebt er nach. „Diese Ausschließerei vor Wahlen nervt mich.“ Außerdem müsse man ja nicht immer nur über Zweierkoalitionen reden. In Brandenburg würde es bei der Landtagswahl im nächsten Frühjahr nach aktuellen Umfragen nur für Dreierbündnisse reichen. „Oder vielleicht gibt es mal eine Tolerierung.“ Heißt: Erst wählen, dann gucken, was geht.

So hatte es auch CDU-Ministerpräsident Günther gemeint. Und damit dem Brandenburger CDU-Landeschef Ingo Senftleben aus der Seele gesprochen: „Daniel Günther und ich haben uns nicht abgestimmt, aber wir kennen uns schon seit Jahren, und ich schätze ihn sehr: Die Wähler sehnen sich nach einem anderen Politikstil, nach Politikern, die über Parteigrenzen hinweg denken können“, sagt Senftleben dieser Redaktion. Und: „Gute Ideen sind auch dann gute Ideen, wenn sie von anderen Parteien, zum Beispiel von der Linken, kommen.“

CDU-Mann Möckel trinkt im Café an der Oder den letzten Schluck Kaffee. Eins sei klar, sagt er dann entschieden. Bündnisse mit der Linken nach der Bundestagswahl? „Das gibt es in den nächsten 100 Jahren nicht.“ Warum? „Es sind nicht alle wie Wilke.“ Auch der neue Oberbürgermeister im alten Backsteinrathaus von Frankfurt hält solche Bündnisse erst mal für ausgeschlossen. Zu tiefe Gräben, zu wenig Gemeinsames. Er macht eine kleine Pause, lächelt dann breit: „Dafür müssten schon wir beide dabei sein.“