Berlin.

Die Modernisierung der SPD, die sich Andrea Nahles auf die Fahnen geschrieben hat, beginnt in ihrem eigenen Büro. Die neue Vorsitzende hat die hölzerne Bücherwand, die Vorgänger Martin Schulz lieb gewonnen hatte, entfernt – und plant eine Wand für elektronische Medien.

Frau Nahles, wird Ihnen schwindlig, wenn Sie auf die Umfragen schauen?

Andrea Nahles: Nein, dass ich den Parteivorsitz in einer schwierigen Lage übernommen habe, war mir ja voll und ganz bewusst. Unser Land braucht eine starke SPD, die sich für die Belange der normalen Menschen in unserem Land einsetzt. Dafür arbeiten wir hart jeden Tag. Für eine bessere Rente, für eine Begrenzung des Mietenwahnsinns, für bessere Pflege. Ich habe keinen Zweifel, dass wir damit auch verloren gegangenes Vertrauen zurückgewinnen werden.

Sie liegen noch unter dem historisch schwachen Wahlergebnis von Martin Schulz – und laufen Gefahr, von AfD und Grünen überholt zu werden.

Mir ist die Umfragelage klar. Und wir haben eine klare Vorstellung, woran wir arbeiten müssen. Es ist ja auch schon einiges passiert. Die SPD ist selbstbewusster und geschlossener geworden.

Sahra Wagenknecht bereitet den nächsten Angriff auf die SPD vor. Wie ernst nehmen Sie die neue Sammlungsbewegung der linken Spitzenfrau?

Das bereitet mir keine schlaflosen Nächte. Für eine ernst zu nehmende Sammlungsbewegung hätte Sahra Wagenknecht vor dem Start mit SPD und Grünen einmal reden müssen. Ganz offensichtlich geht es ihr eher um eine Positionsverschiebung innerhalb der Linken. Wenn sie beispielsweise ein Einwanderungsgesetz rigoros ablehnt, bewegt sie sich außerhalb des linken Spektrums. Wir brauchen klare Regeln für eine gesteuerte Einwanderung im Interesse unseres Landes.

Schreiben Sie die rot-rot-grüne Perspektive ab?

Nein. Ich bin nach wie vor im Gespräch mit Grünen und Linken, wie wir Mehrheiten jenseits der großen Koalition ermöglichen können. Das werde ich auch in Zukunft weiter vorantreiben. In den 16 Bundesländern gibt es 13 verschiedene Regierungskonstellationen. Die CDU ist dabei, ihre klare Abgrenzung gegenüber der AfD und der Linkspartei aufzubrechen. Das zeigt die Beliebigkeit ihrer Positionen, aber gleichzeitig, wie radikal sich die Lage verändert hat. Das gesamte politische Spektrum ist aufgefordert, darüber zu diskutieren, wer mit wem eine vernünftige Politik für Deutschland machen kann.

Die CDU hat eine neue Wehrpflicht-Debatte angestoßen – und damit das Herz ihrer Stammwähler erwärmt. Wie kann den Sozialdemokraten so etwas gelingen?

Das Hin und Her innerhalb der CDU bei der Wehrpflicht finde ich nicht so bemerkenswert. Uns Sozialdemokraten geht es darum, Zukunftsfragen zu diskutieren, die über den Koalitionsvertrag hinausreichen. Beispielsweise: Wie gelingt es, dass die Digitalisierung den Menschen nutzt und nicht nur den Konzernen? Wie können Daten demokratisiert werden? Ich habe dazu ein Gesetz vorgeschlagen, das große Unternehmen verpflichtet, einen Teil ihres Datenschatzes öffentlich zu teilen.

Der größte SPD-Landesverband in Nordrhein-Westfalen will lieber eine alte Idee aufwärmen: die Abschaffung von Hartz IV. Unterstützen Sie das?

Das Thema, das die SPD aktuell anpackt, ist die Rente. Wir wollen, dass niemand Angst vor Altersarmut haben muss. Ein gutes Leben im Alter und die langfristige Finanzierbarkeit der Rente durch die Berufstätigen sind Aufgaben für die gesamte Gesellschaft. Dafür nehmen wir richtig viel Geld in die Hand. Die Renten steigen künftig in dem Maße, in dem auch die Löhne steigen. Damit schaffen wir einen Neustart für stabile Renten. Hubertus Heil wird das Rentenpaket noch im August ins Kabinett geben.

Und Hartz IV?

Wir haben die Debatte über den Sozialstaat schon eröffnet. Das ist ein fester Bestandteil unseres Erneuerungsprozesses. Daher bin ich mit dem Beitrag des NRW-Landesverbands sehr einverstanden. Er fließt ein in die Debatten, die wir jetzt führen.

Als Arbeitsministerin haben Sie die Reformen von Gerhard Schröder schon deutlich abgeschwächt. Halten Sie weitere Korrekturen für notwendig?

Es gibt Licht und Schatten bei Hartz IV. Wir sollten nicht alles rundweg ablehnen, was diesen Namen trägt. Aber wir müssen grundlegende Fragen stellen. Wie wirken denn überhaupt Sanktionen bei Jüngeren? Kontraproduktiv! Die melden sich nie wieder im Jobcenter, um einen Ausbildungsplatz zu suchen. Ergebnis sind ungelernte junge Erwachsene, die wir nicht mehr erreichen. Dafür gibt es viele Belege, auch von der Bundesagentur für Arbeit. Die CSU hat verhindert, dass ich das als Arbeitsministerin reformieren konnte. An meiner Überzeugung hat sich aber nichts geändert, und wir bleiben an dem Thema dran: Leistungskürzungen für jüngere Hartz-IV-Empfänger sollten abgeschafft werden.

Würde es helfen, Hartz IV umzubenennen?

Es geht doch nicht um Namen. Früher sprach man im Volksmund von Stütze und meinte die Sozialhilfe. Heute redet man von Hartz IV und meint die Grundsicherung. Ob der Begriff Hartz IV wieder aus unserem Sprachgebrauch verschwindet oder nicht, wird man sehen. Natürlich werden wir immer eine Form der Grundsicherung als unterstes soziales Netz brauchen, alles andere wäre ja ein enormer sozialpolitischer Rückschritt.

Was sagen Sie jenen in Ihrer Partei, die Hartz IV durchweg als ungerecht empfinden?

Lasst uns diskutieren und nach den besten Lösungen suchen. Dazu brauchen wir aber Debatten, ohne dass die Richtung von oben kommt oder das Ergebnis gleich feststeht. Das haben wir hier jahrelang gehabt. So was läuft nicht mehr. Ich bin zum Beispiel dafür, den Schutz durch die Arbeitslosenversicherung zu verbreitern und zu verlängern. Es kann auch nicht sein, dass Familien mit Kindern dauerhaft auf Grundsicherung angewiesen sind. All das diskutieren wir.

Lassen Sie auch eine Debatte über das bedingungslose Grundeinkommen zu?

Ich lasse alle Diskussionen zu, aber ich habe auch ganz klare Prinzipien. Ein Prinzip ist die Leistungsgerechtigkeit. Das heißt für mich, dass Arbeit und Einkommen zusammenhängen, dass man anständige Löhne zahlt und wir Anstrengung würdigen. Ich habe nicht vor, an diesem Grundsatz zu rütteln, und bin daher strikt gegen ein bedingungsloses Grundeinkommen.

Hartz-IV-Urheber Schröder sorgt auch als Altkanzler für Kontroversen – mit seinem Einsatz für Russland und Wladimir Putin. Schadet er damit der SPD?

Gerhard Schröder macht das als Privatperson.

Ist die Ostsee-Pipeline Nord Stream 2, die Schröder mit eingefädelt hat, im deutschen Interesse?

Diese Pipeline wird von einem europäischen Konsortium gebaut. Wir sollten uns nicht von unseren energiepolitischen Verabredungen abbringen lassen, nur weil der amerikanische Präsident da Schluckbeschwerden hat.

Abhängigkeit von Russland fürchten Sie nicht?

Wir sind bei den Energielieferungen auf so einige Länder angewiesen. Eine weitere Gasleitung macht uns nicht abhängig von Russland.

Putin kommt an diesem Wochenende nach Deutschland. Welche Botschaft sollte Kanzlerin Angela Merkel übermitteln?

Ich begrüße sehr, dass der Austausch mit Russland wieder verstärkt wurde – gerade durch Außenminister Heiko Maas. Es ist gut, dass Wladimir Putin jetzt Deutschland besucht und Gespräche führt. Viele Konflikte in der Welt sind ohne Russland überhaupt nicht zu lösen. Wir brauchen einen guten und intensiven Dialog mit Russland, in dem wir unsere politischen Überzeugungen zum Ausdruck bringen können – etwa mit Blick auf die Ukraine-Krise, die Annexion der Krim und die Menschenrechte. Frau Merkel sollte mit Putin aber auch über die Welthandelsorganisation WTO reden …

… mit welchem Ergebnis?

Wir brauchen eine Stärkung der WTO – gerade weil Trump die halbe Welt mit Sanktionen belegt. Diese US-Regierung bringt wesentliche Teile Asiens in Bedrängnis und gefährdet die türkische Wirtschaft massiv. Das kann eine Kettenreaktion auslösen. Wir müssen in den internationalen Handelsbeziehungen wieder mehr Rechtssicherheit schaffen. Und da ist Russland ein wichtiger Gesprächspartner für Deutschland und Europa. Ich erwarte, dass beim Treffen zwischen Frau Merkel und Putin eine Vereinbarung zustande kommt, die Durchsetzungskraft der WTO zu stärken. Konkret geht es um die Besetzung von Richterstellen und um Finanzierungsfragen. Wenn Europa und Russland hier mit einer Stimme sprechen, wird das Trump nicht unbeeindruckt lassen.