Athen. Der radikale Sparkurs der Regierung hat viele Menschen in die Verzweiflung getrieben. Am Montag laufen die fast 300 Milliarden Euro schweren Hilfsprogramme aus

    „Mehr können wir leider nicht anbieten“, sagt Katerina und stellt einen kleinen Teller mit Gebäck auf den Tisch. Eine Zweizimmerwohnung im Athener Arbeiterviertel Nikaia, 43 Quadratmeter. Hier lebt die 38-Jährige mit ihrer 71 Jahre alten Mutter. Ihren vollen Namen will sie nicht in der Zeitung lesen. „Ich schäme mich so – ich bin noch keine 40 und schon am Ende“, sagt sie und bricht in Tränen aus. Katerina hatte eine gut bezahlte Arbeit als Disponentin eines „Atlantik“-Supermarkts, hoffte auf eine Beförderung. Dann kam die Krise, die Kette ging pleite. Die junge Frau verlor ihren Job, musste ihre Wohnung aufgeben, zog zurück zu ihrer Mutter. Jetzt verdient sie 380 Euro im Monat als Teilzeitkraft in einem Schnellrestaurant und lebt in ständiger Angst, den Job zu verlieren. Die Hoffnung auf eine „richtige Stelle“ hat Katerina längst aufgegeben: „In meinem Alter kann ich froh sein, wenn ich wenigstens einen Halbtagsjob bekomme“, sagt sie mutlos.

    Die Einkommen fielen um durchschnittlich ein Drittel

    Kaum jemand ahnte, was auf Griechenland zukam, als am 23. April 2010 der damalige Premierminister Giorgos Papandreou in einer Fernsehansprache vor der malerischen Hafenkulisse der kleinen Insel Kastelorizo einen Offenbarungseid leistete. An den Finanzmärkten bekam das hoch verschuldete Land kein Geld mehr. Hellas stand vor der Pleite. Papandreou verglich Griechenland mit einem „sinkenden Schiff“. Das SOS wurde gehört. Innerhalb einer Woche stellten die Euro-Staaten und der Internationale Währungsfonds (IWF) Kredite von 110 Milliarden Euro bereit, um Griechenland finanziell über Wasser zu halten. Achteinhalb Jahre und drei Rettungspakete später ist die Gefahr des Staatsbankrotts gebannt. Aus einem Haushaltsdefizit von 15,4 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) im Jahr 2009 wurde 2017 ein Überschuss von 0,8 Prozent. Kein anderes Euro-Problemland hat bei der Haushaltskonsolidierung so beeindruckende Erfolge erzielt wie Griechenland.

    Aber um welchen Preis: Der Sparkurs, den die Athener Regierungen auf Geheiß der Gläubiger steuern mussten, trieb die Griechen in die tiefste und längste Rezession, die ein europäisches Land in Friedenszeiten je durchzumachen hatte. Die Wirtschaftsleistung schrumpfte um mehr als ein Viertel. Zehntausende Firmen gingen in Konkurs. Die Einkommen fielen um durchschnittlich ein Drittel, die Arbeitslosenquote stieg von 7,5 auf 27 Prozent. Das Arbeitslosengeld – 360 Euro für einen Single, 504 Euro für eine vierköpfige Familie – wird in Griechenland maximal ein Jahr lang gezahlt. Eine Grundsicherung wie Hartz IV gibt es nicht. Von der Arbeitslosigkeit ist es deshalb oft nur ein kleiner Schritt in die Obdachlosigkeit.

    Makis weiß das. „32 Jahre bin ich zur See gefahren“, erzählt der 61-Jährige. „2013 ging die Reederei in Konkurs, seitdem bin ich arbeitslos – keiner nimmt einen Seemann in meinem Alter“, sagt Makis. Als die Ersparnisse aufgebraucht waren, verlor er seine Wohnung. Jetzt lebt er als Obdachloser am Hafen von Piräus. In vier Jahren hofft er auf eine Rente. „Viel wird es nicht sein“, sagt Makis, „aber hoffentlich genug für ein Dach über dem Kopf.“

    Auf dem Papier hat Griechenland die Krise hinter sich gelassen. Seit 2017 wächst die Wirtschaft wieder, wenn auch schwach. Die Arbeitslosenquote ist auf 19,5 Prozent gefallen. Aber das sagt wenig, denn immer weniger Menschen haben Vollzeitjobs. Von den 1,7 Millionen Beschäftigten in der Privatwirtschaft arbeitet jeder Dritte in Teilzeit – für durchschnittlich 394 Euro netto im Monat. Diese Teilzeitarbeiter haben kaum eine Chance, Rentenansprüche zu erarbeiten. In Griechenland tickt eine soziale Zeitbombe: „Ich fürchte eine Explosion der Armut“, sagt der Ökonomieprofessor Savvas Robolis.

    Auch Erwin Schrümpf ist besorgt: „Ich denke mal, die menschliche Krise wird sich in den nächsten Jahren noch dramatisch verschärfen, die Menschen werden noch mehr leiden und hungern als bisher.“ 2012 gründete der Salzburger seinen Verein Griechenlandhilfe.

    Internationale Hilfskredite von rund 275 Milliarden Euro flossen seit 2010 nach Athen. Private Gläubiger verzichteten beim Schuldenschnitt von 2012 auf Forderungen von mehr als 100 Milliarden Euro. Dennoch steckt Griechenland nach achteinhalb Jahren „Rettung“ tiefer im Schuldensumpf denn je. Die Schuldenquote stieg von 127 Prozent des BIP im Jahr 2009 auf jetzt 183 Prozent. Die europäischen Gläubiger räumten dem Land deshalb im Juni Schuldenerleichterungen ein. Zins- und Tilgungszahlungen älterer Kredite werden um zehn Jahre gestundet, die Fälligkeiten um weitere zehn Jahre verlängert. Im Gegenzug verpflichtete sich Athen bis 2060 zu strikter Haushaltsdisziplin.

    Nur wenn Griechenlands Wirtschaft wieder wächst, hat das Land eine Chance, sich aus der Schuldenfalle zu befreien. Athen musste zwar als Gegenleistung zu den Hilfskrediten in den vergangenen Jahren Hunderte Strukturreformen umsetzen. Den Übergang zu einer innovationsgetriebenen Ökonomie habe das Land dennoch nicht geschafft, meint Alexander Kritikos, Ökonom beim Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) in Berlin. „Man hat nicht versucht, Überregulierung und staatliche Bürokratie so abzubauen, dass es für innovative Unternehmen attraktiv ist, in Griechenland zu bleiben“, sagt Kritikos.

    Das verschreckt nicht nur Investoren. Rund 500.000 Griechen sind während der Krise ausgewandert, überwiegend Akademiker und gut ausgebildete Fachkräfte. „Die meisten sind nicht vor Arbeitslosigkeit und Not geflohen, sondern vor dem ‚System Griechenland‘ – der Vetternwirtschaft, dem politischen Stillstand und der gesellschaftlichen Apathie“, sagt Nikos Stampoulopoulos. Der Filmemacher wanderte selbst 2009 nach Amsterdam aus. 2014 kehrte er nach Athen zurück. Dort betreibt der 48-Jährige die Webseite „Nea Diaspora“, auf der sich Auslandsgriechen vernetzen und austauschen können. An eine Rückkehr denken die wenigsten, so Stampoulopoulos. „Griechenland hat in den vergangenen Jahren Hunderttausende seiner besten Talente verloren“, sagt der Filmemacher. „Dieser Exodus ist die schlimmste Langzeitfolge der Krise.“