Auschwitz.

Am Abend vor dem Besuch im Vernichtungslager Birkenau trifft sich die kleine Gruppe im Zentrum für Dialog und Gebet, einem katholischen Begegnungsort im polnischen Ort Oswiecim – zu Deutsch: Auschwitz. Amro trägt eine kurze Hose, schwarze Sneaker und seine neu gekauften polnischen Zigaretten in der Brusttasche. Er muss jetzt, nach dem ersten gemeinsamen Tag, etwas sagen. Es platzt aus ihm heraus. „Weißt du, ich gebe hier super viel und kriege so wenig zurück“, sagt der 24-Jährige. Seine wachen Augen funkeln. Amanda, die neben ihm auf einem Stuhl sitzt, bleibt still. „Ich habe das Gefühl, die Juden interessieren sich gar nicht für uns“, sagt er noch. Sie stellten keine Fragen, blieben unter sich. Genauso reden einige Juden über die Muslime an diesem Abend. Experiment schon gescheitert?

Amro schaut stumm auf die eingefallenen Mauern

Die 18-jährige Amanda aus Hamburg und Amro, der 24 Jahr alte Syrer, sind Teil einer Gruppe von 25 jungen Juden und syrischen Geflüchteten, die gemeinsam Auschwitz besuchen. Organisiert haben die Reise der Potsdamer Rabbiner und Vorsitzende der Union progressiver Juden, Walter Homolka, und Aiman Mazyek, der Vorsitzende des Zentralrats der Muslime. Wenn man Geflüchtete integrieren wolle, müsse man ihnen auch die Geschichte Deutschlands erklären, so die Idee. Andersherum sollen Vorurteile abgebaut werden, die Juden gegenüber Muslimen haben. Fälle, wie der des syrischen Flüchtlings, der auf einen israelischen Kippa-Träger in Berlin eindrosch, werden in ganz Deutschland diskutiert. Auch der Zentralrat der Juden warnt vor dem Antisemitismus der Flüchtlinge.

Am nächsten Morgen geht es für Amro und Amanda in das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau. Die beiden sitzen auf einer Treppenstufe neben den steinernen Ruinen des Krematoriums. Hinter ihnen erinnern Metalltafeln in den 23 Sprachen der Ermordeten: „Dieser Ort sei Allzeit ein Aufschrei der Verzweiflung und Mahnung an die Menschheit.“ Die beiden schweigen. Mit einem Taschentuch reibt sich die Jüdin die Tränen aus den Augen. Amro schaut stumm auf die eingefallenen Mauern. Kurz zuvor hatten sie Kerzen entzündet, hatten gebetet. Der Muslim die al-Fatiha – die erste Sure des Korans. Die Jüdin das Kaddisch, das Totengebet. Auf Arabisch und Hebräisch lobpreisen sie Gott und ehren die Toten: die etwa eineinhalb Millionen Menschen, vor allem Juden, die die Deutschen zwischen 1940 und 1945 hier ermordeten.

Die Sonne brennt auf die bunten Kopftücher der muslimischen Frauen und die Kippa der jüdischen Männer. Und auch wenn nicht die ganze Gruppe so gut miteinander auskommt wie Amro und Amanda das tun: Diese Reise, sie ist ein Symbol allein durch die Kippa und Kopftücher, das Hebräische und Arabische – Dinge, die in der deutschen Gesellschaft immer mehr zu Gegensätzen werden, vereinen sich am Ort des schlimmsten deutschen Verbrechens.

Auch deshalb reisen die beiden Ministerpräsidenten Bodo Ramelow (Linke) aus Thüringen und Daniel Günther (CDU) aus Schleswig Hollstein an. Günther, weil viele der Juden aus Schleswig-Holstein stammen. Ramelow, weil viele der Geflüchteten in Thüringen leben – wie Amro. „Wir erleben in Deutschland das Wiedererstarken des Antisemitismus und wir erleben Diskussionen, dass der Antisemitismus getragen wird von jungen Flüchtlingen – das will ich nicht kleinreden“, sagte Ramelow dieser Redaktion. Er unterstütze diese Reise auch, weil sowohl Deutsche als auch Flüchtlinge verstehen müssen, welche Verantwortung Deutschland gegenüber den Juden und dem Staat Israel trage: „Ich erlebe hier, dass die jungen Muslima mit Stolz Kopftuch tragen und andererseits merke ich, dass sie genau wissen wollen, was hier passiert ist.“ Wissen, was passiert – das ist Amros Spezialität. Niemand fragt so viel wie er. Wie lang sind die Gleise, will er wissen? 960 Meter sind es – vom Eingangstor bis zum Mahnmal. Die Weite des Vernichtungslagers Birkenau ist erdrückend. Als sie die Gleise entlanglaufen sagt Amanda: „Es fühlt sich hier an, als ob ich nicht atmen kann.“ Sie ist das erste Mal in Auschwitz. Ihre Urgroßmutter war in einem KZ.

Amro findet schnell seine Sprache wieder. Holocaust – Schoah, so sagen die Juden – das war für ihn nur ein Wort bislang. Er kannte keine Juden in Syrien. Wusste nur, dass viele in seiner Heimat schlecht reden über Israel. Aber während der Führung durch das Gelände hatte er immer wieder ungläubig nachgefragt. Nach Details, nach der Zahl derer, die fliehen konnten aus dem Lager – nur 230 von mehr als einer Million – und immer wieder, ob er auch richtig verstanden hätte: „Entschuldigung“, so leitet er die Fragen an die polnische Führerin ein, „die Nazis haben die Menschen wirklich Postkarten an ihre Familien schreiben lassen, dass es ihnen gut geht und sie dann vergast?“

Vieles, was er heute gelernt hat, hat er nicht gewusst – Amanda schon. Es ist Teil ihrer Familiengeschichte. Doch es gibt diesen Moment, da sind sie sich ganz nah. Als sie neben den Ruinen von Krematorium III stehen. 20 Minuten, sagt die polnische Führerin, hat es gedauert bis die Häftlinge am Gas erstickten. 20 Kilometer weiter konnte man noch den süßlichen Geruch der Leichen wahrnehmen. Amanda rollt eine Träne die Wange hinab. Amro hat die Arme hinter dem Rücken verschränkt. Er will wieder was fragen, doch bricht ab. Sie schweigen. Diese 20 Minuten, sie sind für Juden und Muslime das Gleiche.

Doch was bringt jetzt diese Reise? Sicher, sie soll ein Symbol sein für mehr Miteinander, dass sagen die Organisatoren. Das sagen auch Bodo Ramelow und Daniel Günther. „Mir hat sie einen Freund gebracht“, sagt Amanda auf dem Rückweg zur Unterkunft. Amro stellt schon wieder Fragen.