Mexiko-Stadt/Caracas.

Wenn Rafael Castillo seinen Gästen die Rechnung bringt, dann legt er dezent ein Zettelchen dazu. Darauf stehen sein Name, seine Bankverbindung, seine Ausweis- und seine Handynummer. Es ist ein Hinweis darauf, wohin das Trinkgeld zu überweisen sei. „Meistens machen das die Gäste auch“, sagt der Kellner des Restaurants Fuente de Soda El León in Caracas’ feinem Viertel Altamira. Es gehe halt auf Vertrauensbasis.

Mit Bargeld zahlt bei Castillo schon lange niemand mehr, seit die Preise in Venezuela sich von Woche zu Woche in immer größeren Sprüngen erhöhen. Die schwindelerregende Teuerung hat das Bargeld im „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ zu einem raren Gut werden lassen. Seit Anfang des Jahres ist es faktisch völlig verschwunden – jedenfalls in der Hauptstadt Caracas. Nicolás Maduros schöne neue Gesellschaftsordnung hat so wider Willen geschaffen, worüber man in Europa derzeit erhitzt diskutiert – die bargeldlose Gesellschaft.

Der Internationale Währungsfonds geht von einer Inflation von einer Million Prozent bis Ende 2018 aus – eine der schlimmsten Hyperinflationen der Weltgeschichte. Auf dem Schwarzmarkt kostet der Dollar etwa 3,5 Millionen Bolívares. Die Konsequenzen sind bizarr. Wer Dollars hat und auf dem Schwarzmarkt tauschen kann, lebt wie ein König. Wer wie die Mehrheit der Venezolaner auf den staatlichen Mindestlohn angewiesen ist, der hungert. Laut der jährlichen Erhebung der drei wichtigsten venezolanischen Universitäten zu den Lebensbedingungen haben vergangenes Jahr 64 Prozent der Bevölkerung bis zu elf Kilo Gewicht verloren. Inzwischen sind Krankheiten wieder aufgetaucht, die als überwunden galten. Es fehlt an Medikamenten, deshalb enden einfache Krankheiten oft tödlich. Die Kindersterblichkeit ist in dem erdölreichen Land auch infolge der Unterernährung stark angestiegen.

Wer der Regierung nahesteht, bekommt Lebensmittelpakete

Für den monatlichen Mindestlohn von fünf Millionen Bolívares einschließlich aller Boni bekommt man gerade einmal einen Karton Eier, zwei Sandwichs, aber kein Kilo Fleisch. In Caracas ist das Bargeld so knapp, dass es selbst zu einer begehrten Handelsware geworden ist. Wer eine Million Bolos in bar braucht, der muss dafür drei Millionen überweisen. Und das geht so: Man bekommt eine Kontonummer mitgeteilt, auf die der Gegenwert von drei Millionen Bolívares zum Schwarzmarktkurs transferiert werden muss – und dann überbringt der Geldwechsler die Million in bar.

Einkäufe und Geschäfte jeder Art laufen in Caracas nur noch über Debitkarten. Einen Großeinkauf im Supermarkt muss man mit bis zu drei Bank- oder Kreditkarten bezahlen, weil die millionenschweren Rechnungssummen die Limits sprengen. Überall zahlen die Menschen mit Karte, selbst der Hotdog-Verkäufer auf der Avenida Miranda, einer der Hauptverkehrsachsen der Stadt, hat einen „Punto de Venta“, ein Kartenterminal. Aber die Nahverkehrsbusse zum Beispiel haben diese nicht. In der Folge gehen viele Menschen in Caracas gar nicht mehr zur Arbeit, weil sie das Busticket nicht bezahlen können; zudem kollabiert die U-Bahn der venezolanischen Hauptstadt. Die Metro-Fahrt ist jetzt kostenlos, weil das Drucken der Tickets teurer ist als diese selbst. Und da in der Fünf-Millionen-Stadt jeder mit Karte zahlt, brechen regelmäßig die Zahlsysteme zusammen.

Aber wer weder Debitkarte noch Dollars hat, dem knurrt täglich der Magen. Um die größte Hungersnot zu vermeiden, vergibt die Regierung daher seit knapp zwei Jahren staatliche Lebensmittelpakete – theoretisch einmal im Monat. Aber nicht jeder kommt automatisch in den Genuss der CLAP-Kartons. Bevorzugt werden diejenigen, die der Regierung nahestehen. Die CLAP („Lokale Komitees zur Versorgung und Produktion“) sind an die „Kommunalräte“ gebunden, die wiederum von der Regierungspartei PSUV kontrolliert werden. So übt die Regierung letztlich soziale Kontrolle aus.

Seit dem Wochenende haben die Venezuelaner noch ein anderes Problem. Nach dem angeblichen Attentat auf Präsident Maduro am Sonnabend fürchten sie eine Verschärfung der Repression gegen Andersdenkende und eine Militarisierung des Landes. Die Sicherheitskräfte leiteten eine Großfahndung ein. Sechs Verdächtige seien festgenommen worden, so das Innenministerium. Die Regierung vermutet eine Zelle abtrünniger Militärs hinter der Tat.

Nach Regierungsangaben hatten Attentäter während einer Militärparade versucht, einen Anschlag mit Drohnen auf den Staatschef zu verüben. Das Staatsfernsehen hatte den Moment übertragen, in dem eine Explosion zu hören war, während Maduro eine Rede hielt. Der Staatschef blieb unverletzt.

Direkt nach dem Zwischenfall waren jedoch Zweifel an der Attentatsversion aufgekommen. Vor allem Aussagen von Feuerwehrleuten nährten den Verdacht, dass es sich nur um einen Unfall mit einem Gastank in einem nahen Gebäude gehandelt haben könnte. Aber Videos von einem zunächst festgenommenen Kameramann zeigen, dass es zwei Drohnen waren, die über und nahe der Bühne flogen, auf der der Präsident und seine Frau Cilia Flores standen. Innenminister Reverol präsentierte am Sonntag ein Bild der Drohne, mit der der Anschlag auf Maduro verübt werden sollte. Zwei M-600-Drohnen für industrielle Nutzung seien verwendet und mit je einem Kilo C4-Sprengstoff beladen worden. Der Minister präsentierte auch eine Erklärung, warum zumindest eines der Fluggeräte gegen ein Gebäude an der Avenida Bolívar flog und dort detonierte: Es sei von der Präsidentengarde mit Störsignalen abgelenkt worden. Maduro bezichtigt den früheren Präsidenten Kolumbiens, Juan Manuel Santos, der Urheberschaft. Weitere Hintermänner vermutet er in den USA.

Das Mitte-links-Oppositionsbündnis „Frente Amplio“ (Breite Front) fürchtet, Maduro werde das mögliche Attentat als Vorwand verwenden, diejenigen „zu kriminalisieren, die sich ihm auf demokratische Art und Weise“ in den Weg stellten. „Er wird die Verfolgung verschärfen“, hieß es in einer Stellungnahme der Frente Amplio. Schon jetzt sind rund 200 oppositionelle Politiker in Venezuela in Haft, Dutzende andere sind ins Ausland geflohen.