Berlin.

Die Welt aus den Fugen, die Regierung in Turbulenzen – wie sollen jetzt in Deutschland die Weichen gestellt werden? Im dritten Teil unserer Interviewserie sagt FDP-Chef Christian Lindner, warum er sich an Frankreich orientieren will.

Auf Gipfeln und in Tweets nährt US-Präsident Donald Trump den Eindruck, dass sich Europa und gerade Deutschland nicht mehr auf Amerika verlassen können. Ist der Westen zerbrochen, Herr Lindner?

Christian Lindner: Nein, aber die alte Ordnung mit EU und Nato ist keine Selbstverständlichkeit mehr. Deutschland hat von ihnen wie kein zweites Land profitiert. Also werden wir die Anstrengungen verstärken müssen, um die Institutionen zu modernisieren, die uns Wohlstand und Sicherheit bringen. Der Rückzug in Nationalismus und Abschottung wäre gerade für uns fatal.

Könnte sich Europa überhaupt selbst verteidigen – ohne den Beistand der USA?

In einer Welt mit Atomwaffen halte ich das für illusionär. Aber Europa wird innerhalb der Nato eine stärkere Rolle spielen müssen, um für die USA ein attraktiver Partner zu sein. Die Kritik, die Trump äußert, wäre auch von Hillary Clinton gekommen. Der französische Präsident Emmanuel Macron hat daher die Vision einer europäischen Verteidigungsgemeinschaft beschrieben. Solche Ideen bringen den Kontinent nach vorne.

Was bedeutet das für die deutschen Rüstungsausgaben?

Wir werden stärker investieren müssen in die Sicherheit unseres Landes. Von dem fixen Zwei-Prozent-Ziel für Rüstung halte ich aber nicht viel. Erst muss der Auftrag des Militärs definiert sein, dann sollten die europäische Zusammenarbeit und das Management verbessert werden. Danach erst weiß man, was es kostet. Vielleicht mehr, vielleicht weniger als zwei Prozent. Wir schlagen daher einen umfassenderen Ansatz vor, nämlich langfristig drei Prozent unserer Wirtschaftsleistung zu investieren: in Diplomatie, in die Entwicklungszusammenarbeit – etwa mit Afrika – und eben in Verteidigung. Wichtiger als Rüstung ist die Krisenvermeidung.

Ist ein Handelskrieg mit den USA abgewendet?

Was der Deal wert ist, den EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker mit Trump ausgehandelt hat, wird die Zeit weisen. Ich habe Zweifel, ob ein Tausch – Autos gegen Sojabohnen – auf Dauer tragfähig ist. Aber dass wir solche Gespräche führen, ist wichtig. Die eigentliche Wettbewerbssituation besteht nämlich nicht zwischen EU und USA, sondern gegenüber China. Es gibt ein gemeinsames Interesse von Brüssel und Washington, die Welthandelsorganisation wieder handlungsfähig zu machen – vielleicht sogar mit der Vision eines Welthandelsgerichts, das objektiv über Streitigkeiten urteilt und über faire Regeln für alle wacht.

Welche europäische Führungspersönlichkeit kann Trump am ehesten die Stirn bieten? Juncker? Macron? Kanzlerin Merkel?

Auf Augenhöhe mit den USA oder China spricht die EU nur gemeinsam. Deshalb dürfen wir uns nicht spalten lassen. Deutschland ist gefordert, isolierte Positionen zu verlassen. Mit der Energie- und Flüchtlingspolitik wurden unsere Partner in den letzten Jahren vor den Kopf gestoßen. Ich fürchte, eine Wende in der deutschen Innenpolitik oder eine gestaltende Rolle in Europa wird mit Frau Merkel nicht mehr gelingen. Sie ist nach 13 Jahren festgefahren. Was für ein Kontrast zu Macron.

Sie haben gerade in Paris führende Vertreter der Macron-Partei En Marche getroffen. Wollen Sie sich verbünden für die Europawahl?

Klar wurde, dass die FDP der Bewegung En Marche von allen deutschen Parteien inhaltlich am nächsten steht. Aber es gibt auch Unterschiede, etwa bei der Gestaltung der Eurozone. Wir wollen beide die Wettbewerbsfähigkeit verbessern und wirtschaftliche Unterschiede schneller überwinden. Für uns ist die finanzpolitische Eigenverantwortung der Mitgliedsstaaten aber eine Frage der ökonomischen Klugheit. Wir haben vereinbart, dass wir weiter im Gespräch bleiben ...

... mit dem Ziel, eine gemeinsame Fraktion im Europaparlament zu bilden?

Es ist zu früh, dazu irgendetwas zu sagen. Wir führen viele Gespräche – auch mit der spanischen Bewegung Ciudadanos, die sich wie wir einer weltoffenen, wirtschaftlich vernünftigen Politik verschrieben hat. Überall in Europa sind christ- und sozialdemokratische Parteien zu erschöpft, um sich dem Populismus von links und rechts entgegenzustellen. Die Europawahl im kommenden Jahr kann die politische Landschaft verändern. Für die moderaten, liberalen Kräfte ist das eine Chance und eine Verantwortung zugleich. Gerade in Deutschland ist die politische Mitte auf der Suche.

Welche Migrationspolitik würden Sie zusammen verfolgen?

Eine liberale. Also Kontrolle, klare Regeln und funktionierendes Management – aber ohne kulturelle oder ethnische Abschottung. Das geht nur europäisch mit gemeinsamen Asylverfahren, vergleichbarer sozialer Absicherung und kontrollierten Außengrenzen. Wir sehen uns da in einem Schulterschluss mit den Liberalen in Frankreich, in den Niederlanden oder in Dänemark. Paradoxerweise führt der Weg zu einer europäischen Lösung über eine Rückkehr Deutschlands zur Zurückweisung von Flüchtlingen an den deutschen Grenzen.

Klingt ganz nach CSU.

Nein, die FDP fordert dies seit Anfang 2016. Deutschland übernimmt die Hauptlast der Migration. Erst wenn dies beendet wird, ist eine Einigungsbereitschaft von unseren Partnern zu erwarten. Horst Seehofer hat das erkannt, aber nicht durchsetzen können. Jetzt vertritt er eine Politik, die er selbst lange als unverantwortlich bezeichnet hat. Als Ausgleich hängt die CSU Kreuze an Behördenwände und kuschelt mit Herrn ­Orbán aus Ungarn. Das sind genau die falschen Signale, denn unser Land ist auf Einwanderung von Fachkräften angewiesen, die sich nicht durch kulturelle Abschottung abgeschreckt fühlen dürfen.

Ist es gut, wenn ein gescheiterter Innen­minister im Amt bleibt?

Es reklamiert die Kanzlerin in diesen Fragen ihre Richtlinienkompetenz.

Also ist es Merkel, die zurücktreten müsste?

Nein, Frau Merkel persönlich macht ja genau das, was sie vor der Wahl angekündigt hat. Die CDU lässt sie gewähren. Der Schlüssel liegt in einer Veränderung der politischen Gesamtkonstellation. Wer mit der Politik von Frau Merkel nicht einverstanden ist, der sollte nicht die autoritäre AfD stärken, sondern die europäische Rechtsstaatspartei FDP. Wir sind die Alternative für Demokraten, die eine andere Einwanderungspolitik wollen, aber dafür Liberalität nicht opfern werden.

In der Asylpolitik wünschen sich die Menschen auch Humanität. Was bedeutet das für die Seenotrettung im Mittelmeer?

Ich wehre mich dagegen, dass zwischen verantwortlichem Handeln und Mitmenschlichkeit ein Gegensatz konstruiert wird. Die Schlepper bringen Menschen nach Europa, die völlig falsche ­Erwartungen haben. Unsere Sozialstaaten brechen zudem zusammen, wenn der Zugang nicht gesteuert wird. Deshalb muss alles getan werden, damit die Boote der Schlepper gar nicht erst in See ­stechen können. Die nordafrikanische Küste muss gesichert werden. Das ist ein Auftrag für das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen, die europäische Grenzschutzagentur Frontex und die Mittelmeer-Anrainerstaaten im Maghreb.

Erstmals hat ein italienischer Frachter gerettete Flüchtlinge zurück nach Libyen gebracht. Ist das vertretbar?

Solche Einzelfälle sind nach interna­tionalem Recht geregelt. Gefahren für Leib und Leben müssen ausgeschlossen sein. Wenn das gesichert ist, halte ich es für sinnvoll, dass die Flüchtlinge an den Punkt zurückgebracht werden, von dem aus sie aufgebrochen sind. Sonst unterstützt man am Ende noch die Schlepper-Kriminalität.

Weiß man so genau, wo Flüchtlinge gefährdet sind?

Wir brauchen Auffangzentren in Nordafrika, die eine menschenwürdige Unterbringung ermöglichen. Eine Milliarde Euro in Nordafrika zu investieren, ist segensreicher, als noch mehr Geld hier in Europa einzusetzen, um Menschen zu unterstützen, die prekär am Rande der Gesellschaft ohne Bleibeperspektive leben.

Nächste Woche im Interview:
AfD-Chef Alexander Gauland