Berlin.

Markus Söder kämpft. Der bayerische Ministerpräsident hat in seinem Kalender so viele Termine wie nie. Er weiht das bayerische Flüchtlingsamt ein, besucht eine Obdachlosenunterkunft und die Bayreuther Festspiele. Der CSU-Politiker muss am 14. Oktober nicht nur eine Landtagswahl gewinnen. Er muss das Undenkbare verhindern – dass die CSU in Bayern die absolute Mehrheit verliert.

Der Freistaat war über Jahrzehnte hinweg das Bundesland, in dem eine der Volksparteien zuverlässig die alleinige Mehrheit im Landtag erreichen konnte. Mit dieser Gewissheit könnte es vorbei sein: In den Umfragen liegt die CSU unter 40 Prozent. Die SPD nähert sich den zehn Prozent. Im Landtag werden wohl sieben Parteien vertreten sein.

Was in Bayern passieren kann, ist woanders in der Republik Realität: Die Volksparteien schrumpfen weiter. Mehr noch: Oft genug reicht es nicht einmal für eine gemeinsame Koalition. Wäre am nächsten Sonntag Bundestagswahl, hätten Union und SPD bundesweit keine eigene Mehrheit mehr. Sie kämen zusammen nur noch auf 48 Prozent der Stimmen – das stellen seit rund zwei Wochen mehrere Umfrageinstitute immer wieder fest. „Groß“ wäre an dieser großen Koalition dann nichts mehr.

Doch wenn noch nicht einmal mehr das Parteienbündnis eine Chance hat, das im Nachkriegsdeutschland stets als absolut sichere Möglichkeit für eine Regierungsmehrheit galt, was bedeutet das für die politische Landschaft? Was passiert da gerade in Deutschland?

Einer, der die Entwicklung beobachtet, ist Karsten Grabow, Leiter der Arbeitsgruppe Parteienforschung bei der CDU-nahen Konrad-Adenauer-Stiftung. „Es ist noch zu früh, das Ende der Volksparteien auszurufen“, sagt Grabow. „Aber wir erleben das Ende von Gewissheiten und von traditioneller politischer Stabilität.“ Deutschland vollziehe einen Prozess, den andere europäische Länder bereits hinter sich haben, so Grabow. „Es ist an der Zeit, sich vom klassischen System mit zwei großen Parteien zu verabschieden.“ Wer nach Skandinavien oder die Niederlande schaue, der sehe dort längst andere Regierungsmodelle. Die politische Koordination werde dabei zwar schwieriger, sagt Grabow. „Aber ich kann nicht erkennen, dass diese Länder im politischen Chaos versinken.“

Dass die Volksparteien CDU, CSU und SPD es zunehmend schwerer haben, Wähler zu binden, ist nicht neu. Aber die Geschwindigkeit, mit der sie an Akzeptanz verlieren, hat zugenommen. Manfred Güllner, der Chef des Umfrageinstituts Forsa, rechnet vor: Die erste große Koalition 1966 habe sich noch auf das Vertrauen von fast 75 Prozent der Wahlberechtigten stützen können. Bei der zweiten großen Koalition 2005 waren es nur noch 53 Prozent der damals Wahlberechtigten. „Jetzt sind es gerade mal etwas mehr als 40 Prozent der Wahlberechtigten“, sagt Güllner.

Die Volksparteien geraten aber nicht das erste Mal unter Druck. In den 80er-Jahren zogen die Grünen in den Bundestag ein. In den 90ern folgten dann die Linken, damals noch als PDS.

Dass kleinere Parteien den Volksparteien überhaupt Wähler abjagen, liegt an gesellschaftlichen Entwicklungen. „Die Menschen werden mobiler und flexi­bler“, sagt Grabow. „Sie wechseln schneller den Beruf, den Arbeitgeber und den Lebensort.“ Traditionelle Bindungen gingen auf diese Weise verloren, individuelle Präferenzen würden wichtiger. Es sei zunehmend unwahrscheinlich, dass Wähler sich wie in den 60er- oder 70er-Jahren früh und dauerhaft an eine Partei binden. Ein Blick auf die politischen Mehrheitsverhältnisse in Bund und Ländern zeigt, wie sehr sich das traditionelle Bild von zwei großen Volksparteien aufgelöst hat. Dass nur CDU, CSU oder SPD den Ministerpräsidenten stellen, ist nicht mehr selbstverständlich. In Baden-Württemberg sitzt seit sieben Jahren ein grüner Regierungschef in der Staatskanzlei und hat die CDU als Juniorpartner. In Thüringen führt ein Linken-Politiker eine Dreier-Koalition mit einer schwachen SPD und noch schwächeren Grünen. Und in Sachsen-Anhalt gibt es ein Bündnis aus CDU, SPD und Grünen. Was also ist noch eine Volkspartei? „Bei Wahlergebnissen von 20 Prozent und weniger ist es schwer, noch von einer Volkspartei zu sprechen“, sagt Parteienforscher Grabow. Genauso schwer sei es aber, einer Partei diesen Status abzusprechen, wenn sie 25 Prozent erreiche. „Eine Partei ist Volkspartei, wenn sie die Koalitionsverhandlungen anführt – diese These eines Kollegen halte ich für sehr pragmatisch“, sagt Grabow. Zudem plädiert er auch für eine inhaltliche Bewertung von Parteien. Während Union und SPD noch den Bevölkerungsquerschnitt vertreten würden, sei etwa die AfD noch weit davon entfernt. „Quantitativ nähert sich die AfD in Teilen Deutschlands Volksparteien an, qualitativ nicht“, sagt Grabow. Volksparteien suchten Kompromisse, die AfD aber ziele auf Tabubruch und Skandal.

In Bayern sind die scharfen Töne aus der Asyldebatte jedenfalls verschwunden. Markus Söder setzt wieder ganz darauf, als Landesvater alle Bürger mitzunehmen. Das Ziel: Seine Partei soll Volkspartei bleiben.