Berlin.
Horst Seehofer liest Meldungen aus den Medien vor: Ausschreitungen bei G20 in Hamburg. Tausende Besucher bei rechtsextremen Musikfestival im thüringischen Themar. Festnahme eines Islamisten in Köln, der an einem Sprengsatz mit dem hochgiftigen Rizin gebastelt haben soll. Diese Meldungen der vergangenen Monate würden zeigen, wie „verwundbar“ Deutschland sei, sagt der Bundesinnenminister und CSU-Chef. 126.000 Menschen hätten im vergangenen Jahr den verfassungsfeindlichen Szenen angehört, neun Prozent mehr als im Vorjahr.
In Berlin stellte Seehofer gemeinsam mit dem Präsidenten des Bundesamtes für Verfassungsschutz (BfV), Hans-Georg Maaßen, den jährlichen Bericht vor. Die Botschaft ist vergleichbar mit den vergangenen Jahren: Extremismus boomt. Die Gefahr durch gewaltbereite Islamisten wiegt am schwersten, aber auch wachsende Gewalt von rechts und links macht den Behörden Sorgen. Die Details zum Verfassungsschutzbericht hier:
Islamismus
Dem islamistischen Spektrum in Deutschland wurden 2017 knapp 26.000 Personen zugerechnet, 10.800 davon salafistischen Ausrichtungen – im Vorjahr waren es 9700 sogenannte Salafisten. Vor allem von dieser Gruppe geht laut Sicherheitsbehörden Gewalt aus. „Mit 747 islamistischen Gefährdern zählen wir in diesem Bereich so viele Personen wie nie zuvor, denen wir das Begehen schwerer Straftaten zutrauen“, sagt der Innenminister. Er spricht sich erneut für eine konsequentere Abschiebung von Gefährdern aus. Im Verfassungsschutzbericht wird für 2017 ein Anschlag mit islamistischem Hintergrund angeführt, nämlich der Messerangriff eines abgelehnten palästinensischen Asylbewerbers, bei dem im Juli in einem Hamburger Supermarkt ein Mensch getötet wurde. Nach Recherchen dieser Redaktion ist jedoch unklar, wie stark der Täter tatsächlich dschihadistisch motiviert war oder gar in Strukturen der Szene eingebunden war. Er hatte vor allem starke psychische Probleme.
Stärker als bisher gehe die Gefahr von radikalisierten Einzeltätern aus, sagt Verfassungsschutzchef Maaßen. Insbesondere in diesem Bereich mahnt er mehr Prävention bei der Arbeit mit Jugendlichen an. Misserfolge in Schule und Beruf beförderten bei jungen Muslimen den Hang zum Extremismus.
Rechtsextremismus
Die Zahl der rechtsextremistisch motivierten Gewalttaten ging 2017 um 35 Prozent zurück. Ein Grund laut Verfassungsschutz: weniger Sammelunterkünfte für Asylbewerber. Genau sie sind häufig Ziel von Angriffen von Fremdenfeinden. 24.000 Rechtsextremisten zählte der Geheimdienst Ende 2017 – 2016 waren es 23.100. Es fällt auf: Viele Täter etwa gegen Asylbewerber sind nicht klar einer Gruppe zuzuordnen – auch hier sind es offenbar immer öfter radikalisierte Einzeltäter. Das Seehofer-Ministerium hat ein Forschungsprojekt gestartet, zentrale Frage: Woher kommt die rechte Gewalt? 2019 sollen erste Ergebnisse vorliegen. Maaßen und Seehofer heben zudem die wachsende Gefahr sogenannter „Reichsbürger“ und „Selbstverwalter“ hervor. Im vergangenen Jahr zählten 16.500 Menschen zu dieser Szene. Sie erkennen die Existenz der Bundesrepublik Deutschland und ihres Rechtssystems nicht an. Der Verfassungsschutz warnt vor der hohen Affinität zu Waffen unter „Reichsbürgern“ – 1200 von ihnen haben einen Waffenschein. Die Innenexpertin der Linksfraktion, Martina Renner, wirft dem Innenminister vor, die Gefahr durch „Reichsbürger“ zu verharmlosen. „Dem Innenminister scheint sein bayerischer Wahlkampf wichtiger zu sein als die Öffentlichkeit über die Gefahr zu unterrichten, die von bewaffneten Reichsbürgern ausgeht, sonst hätte er den seit Wochen vorliegenden Bericht nicht zurückgehalten.“ In der Zeit des Asylstreits zwischen Seehofer und Merkel war die Vorstellung der Erkenntnisse des Verfassungsschutzes mehrfach verschoben worden.
Linksextremismus
Bei linksextremistischen Straftaten gab es eine Steigerung von 5230 auf 6393 Delikte. Davon waren 1648 Gewalttaten – die meisten darauf fallen nach Ansicht von Experten auf gewalttätige Aktionen entlang von Demonstrationen, wie etwa Steinwürfe oder Flaschenwürfe. Vor allem über eine Zahl zeigt sich Seehofer besorgt: Linksextremistisch motivierte Gewalttaten gegen Polizisten und Sicherheitsbehörden seien um mehr als 65 Prozent auf 1135 gestiegen. „Der Rechtsstaat wird das nicht tolerieren.“ Die Steigerung führen die Verfassungsschützer auf den G20-Gipfel zurück. Im Juli 2017 kam es in Hamburg zu Ausschreitungen während des Treffens der Staats- und Regierungschefs der wichtigsten Industrienationen. Insgesamt zählt der Geheimdienst 29.500 Personen zum linksextremistischen Spektrum. 2016 waren es 1000 Menschen weniger. 9000 von ihnen gelten als gewaltbereit.