Berlin/Karlsruhe.

Thomas F. wacht auf, ist wieder bei Bewusstsein, aber kann sich nicht bewegen. Seine Hände sind links und rechts neben dem Körper ans Bett gegurtet, seine Beine auch. Er liegt im Krankenhaus, in der Psychiatrie – und ist fixiert. Fast 48 Stunden lang und gegen seinen Willen. Ein Arzt hat es so entschieden. Dürfen Mediziner das?

Darüber entscheidet an diesem Dienstag das Bundesverfassungsgericht. Zwei Betroffene waren nach Karlsruhe gezogen, sie sahen sich in ihrem Grundrecht auf Freiheit verletzt. Fixierungen kommen häufiger vor als vermutet, tausendfach Jahr für Jahr – und sie sind bislang kaum geregelt: In Nordrhein-Westfalen stehen sie unter Richtervorbehalt, in Baden-Württemberg in der alleinigen Verantwortung des Arztes. Bei der Anhörung Ende Januar verwies Gerichtspräsident Andreas Voßkuhle auf die Schwere des rechtlichen Eingriffs – da ahnt man, warum die Karlsruher Richter von der Anhörung im Januar bis zum Urteil ein halbes Jahr gebraucht haben.

Fixierungen dürfen nur angeordnet werden, soweit und solange die Gefahr nicht anders, also nicht milder abgewendet werden kann. Thomas F. wurde zu seinem Schutz fixiert: Er galt als akut suizidgefährdet. In solchen Ausnahmesituationen wird der Patient mit Gurten aus starkem Baumwollstoff an beiden Armen und Beinen und am Bauch am Bett festgebunden. Die Fixierung selbst ist weniger schmerzhaft, aber gleichwohl ein Trauma, das Thomas F. bis heute, fünf Jahre später, verfolgt – und über das er inzwischen offen sprechen kann.

Panik steigt in ihm auf, sein Atem geht immer schneller

Damals merkt der 36-Jährige, wie die Panik in ihm aufsteigt und sein Atem immer schneller geht. Er denkt: „Jetzt können sie alles mit dir machen.“ Plötzlich steht eine Frau in weißer Kleidung neben ihm und sagt: „Jetzt beruhigen wir uns erst einmal.“ Er schaut sie an, hört, wie sie sagt: „Einatmen, ausatmen, einatmen.“ Aber sein Atem gehorcht ihm nicht. Bis sie etwas nachdrücklicher wird: „Los, mitmachen!“ Dann merkt Thomas F., wie sein Atem regelmäßiger wird. Die Frau lächelt. Kurz darauf bittet er sie höflich, ob sie ihn an der Nase kratzen würde.

Einer, der sich seit Jahren mit diesem Thema beschäftigt, ist Andreas Heinz, Psychiater und Psychotherapeut an der Berliner Charité. Er sagt zunächst, dass Fixierung eine Praxis sei, die nur noch – zumindest in seinem Umfeld – sehr selten angewandt werde. „Wir haben vielleicht zehn bis 20 Fixierungen auf unseren Stationen pro Jahr“, sagt er. „Bei rund 1400 Patienten im Jahr ist das nicht sehr viel.“ Bei der Anhörung in Karlsruhe gingen die Richter allerdings davon aus, dass die Maßnahme 2016 allein in Baden-Württemberg bei 5300 Patienten angewendet worden ist. Genaue bundesweite Statistiken gibt es nicht.

Es gebe gewalttätige Patienten, die eben ad hoc mit einer anderen Methode nicht zu beruhigen seien, erzählt An­dreas Heinz. „Wir hatten zum Beispiel einen Parkinson-Patienten, der dachte, sein Bett sei von Fischernetzen umhüllt, die er anzünden wollte.“ In solch einem Fall wenden die Ärzte durch die Fixierung nicht nur Gefahr vom Patienten selbst ab, sondern auch von anderen Menschen auf der Station.

Aber immer dann, wenn ein einzelner Mensch Macht über andere hat, gibt es Grauzonen, so wie in den zwei Fällen, die vor dem Bundesverfassungsgericht gelandet sind. Der Mann aus Bayern war stark betrunken, der Mann aus Baden-Württemberg hochaggressiv, beide über mehrere Stunden ans Bett gefesselt. Der Mann aus Bayern wurde sogar an der Stirn fixiert, so konnte er nicht einmal den Kopf bewegen.

Der Baden-Württemberger war länger als einen Tag gefesselt, nachdem ein Richter diese Maßnahme bestätigt hatte. Offenbar hatte er in der Psychiatrie mit Gegenständen geworfen, die Ärzte und der Richter gingen von einer anhaltenden Gefahr für andere aus. Die Fixierung gilt als „letztes Mittel“. Schon deswegen, weil sie sehr aufwendig ist: Es muss sichergestellt sein, dass der Patient rund um die Uhr beobachtet wird – dass es ihm gut geht.

Thomas F. erinnert sich, dass die meiste Zeit jemand in Hörweite war, während er den ganzen Tag ans Bett gefesselt war. „Ich musste nur rufen, und dann kam jemand“, sagt er, „und brachte mir die Bettpfanne zum Beispiel.“ Er überstand so seinen ersten Tag, auch wenn er nicht verstand, warum er am Abend noch gefesselt war. Bald gab er auf, mit der Schwester zu diskutieren. Es seien aber alle nett gewesen. „Sie haben mir mein Mittagessen Bissen für Bissen zum Mund geschoben“, sagt er, „und die Schwester gab mir auch ein Snickers aus ihrem Privatvorrat.“ Und doch: In der ersten Nacht, als er aufwachte und auf die Toilette musste, reagierte auf seine Rufe niemand. Thomas F. hatte sich seit seinen Kindertagen nicht mehr eingenässt. Es war ihm sehr unangenehm.

Andreas Heinz von der Charité sagt, dass der Trend in der Psychiatrie dahin gehe, so wenig wie möglich derartige Zwangsmaßnahmen anzuwenden. Vielmehr sollen die Menschen bei der Aufnahme das Gefühl haben, dass sie freiwillig auf der Station sind. „Die Türen werden bewusst offen gehalten – und wir versuchen, sie zum Bleiben zu überzeugen.“ In den meisten Fällen klappe das auch sehr gut.

Sollten sie jedoch eine kurzzeitige Fixierung anordnen, dürfen die Ärzte in den meisten Bundesländern einem Patienten gegen seinen Willen keine Medikamente geben. Dabei könne gerade eine Fixierung ohne Behandlung für den Patienten besonders quälend sein. „Stellen Sie sich vor“, sagt Heinz, „Sie sind der Überzeugung, Sie werden von Aliens festgehalten und können nichts tun und müssen das alles live ertragen.“ Das sei im Einzelfall schlimmer. Im Extremfall könne das dazu führen, „dass wir jemanden mit einer Hirnblutung behandeln können, aber jemanden mit einer Psychose nicht“.

Heinz wünscht sich eine öffentliche Diskussion über dieses Reizthema. Theologen, Sozialarbeiter, Ärzte und Rechtswissenschaftler – sie alle sollten dabei zurate gezogen werden. Die Verfassungsrichter untersuchten für ihr Urteil auch, welche Krankenhäuser die Fixierung überhaupt anwenden und wie man in solchen Extremsituationen in anderen Staaten der EU umgeht. In Großbritannien wird mehr medikamentös ruhiggestellt. In den Niederlanden werden die Patienten eher in einem Raum isoliert. Und in der Schweiz ist eine Fixierung Standard. Dort empfahl eine unabhängige Organisation neulich allerdings, dass dieser Umgang neu geregelt werden sollte. Der Name der Organisation: Nationale Kommission zur Verhütung von Folter.

Thomas F. sagt, dass er nach der Freilassung die Striemen der Gurte noch eine Weile am Handgelenk hatte. Seine Fixierung ist für ihn bis heute eine der schlimmsten Erfahrungen: Er fühlte sich komplett ausgeliefert. „Manchmal träume ich davon“, sagt er. „Ich bin dann in einem Käfig, der ungefähr zwei mal zwei Meter groß ist.“ Immer wieder könne er Menschen sehen, die an dem Käfig vorbeigehen und mit ihm reden. „Sie sind alle sehr freundlich zu mir. Aber es ist klar: Ich bin da drin und darf nicht raus“, sagt er. Er wache dann immer auf und fühle sich dann noch ein paar Minuten wie, er überlegt, „ja, wie ein Tier im Zoo“.