Wie verzweifelt muss einer sein, um seine Heimat zu verlassen, und wie hoffnungsvoll, um für ein neues Leben ein Ertrinken im Meer zu riskieren?

Über die Seenotrettung muss man nicht streiten. Ist sie erst diskutabel, nicht länger selbstverständlich, haben wir die Barbarei. Kein Gebot der Humanität ist, dass Italien sich um jeden Menschen kümmern muss, der im Mittelmeer gerettet wird. Die beiden Ebenen – Ethik und politische Zielkonflikte– sollte man auseinanderhalten.

Europas Flüchtlingspolitik bietet „ein Bild des Grauens“, wie der Grünen-Politiker Jürgen Trittin klagt. Es ist allerdings nicht die Schuld einer „Achse der Willigen“ aus Italien und Österreich, die die Mittelmeerroute abriegeln will, wie er polemisiert.

Bereits 2011 bat die Regierung in Rom um Hilfe. Der Bundesinnenminister hieß damals Hans-Peter Friedrich (CSU) und ließ sie abblitzen. Der damalige SPD-Chef Sigmar Gabriel warb dafür, „dass die europäische Tür geöffnet wird“, damit Italien die Flüchtlingsströme besser bewältigen könne. Sollte ihre Zahl steigen, müsse Europa über eine bessere Verteilung reden. Es könnten auch Zitate aus dem Jahr 2018 sein.

Italien hat in der Zwischenzeit mit „Mare Nostrum“ die erste Operation zur Seenotrettung gestartet und jahrelang die Migranten gen Norden weiterziehen lassen. Diese Art der pragmatisch-schlitzohrigen Lösung ist ausgereizt. In diesen Tagen spielen die Italiener ihr ultimatives Druckmittel aus: Da sie auch den Kommandeur der EU-Rettungsmission „Sophia“ stellen, haben sie versucht, die Schiffe nicht auslaufen zu lassen.

Die Menschen wagen sich nicht zuletzt deswegen auf kaum seetüchtige Boote, weil das Risiko mitunter kalkulierbar erscheint. Draußen, manchmal von der Küste aus sichtbar, kreuzen die Schiffe privater Rettungsorganisationen. Die vertrauen darauf, dass sie die Flüchtlinge einem Kriegsschiff übergeben können. So sparen sie Proviant, Treibstoff und sind die Verantwortung los. Und die Militärs sind wiederum darauf angewiesen, dass die Leute an Land gehen können. Wenn Italien nun seine Häfen sperrt und die Mission „Sophia“ aufhält, reißt diese Kette. Dann werden Tausende sterben, bis irgendwann weniger Flüchtlinge kommen. Das ist das dreckige Kalkül. Man muss allerdings bedenken, dass Italien Täter und zugleich Opfer ist.

Da das Sankt-Florian-Prinzip mit Italien nicht geht, würde die EU es gern in Nordafrika variieren. Algerien, Tunesien und Libyen sollen Migranten auffangen. Diese sind dort so beliebt oder unbeliebt wie, sagen wir mal: in Bayern. Aber sie werden ganz anders behandelt. Die Libyer gehen mit ihnen wie mit Kriminellen um. Aus Marokko kam die Meldung, dass Flüchtlinge an der Grenze zu Algerien am Rande der Sahara ausgesetzt werden. Das ist ein Outsourcing von Unmenschlichkeit.

Zuletzt hat der französische Präsident Macron der italienischen Regierung Zynismus vorgeworfen. Aber das ist der Gipfel der Heuchelei. Macron ist im Kleinen großzügig. Mit großer Geste werden 50 Flüchtlinge aus einem Rettungsschiff aufgenommen – während an der Côte-d’Azur-Grenze 2017 laut Presseangaben Tausende illegale Migranten­ zurückgeschickt wurden.

Europa ist hin- und hergerissen, moralisch wie politisch. Es ist unklar, wohin das „Rendezvous mit der Globalisierung“ (so Bundestagspräsident Schäuble) führen wird. Die Lösung ist nicht einfach, ein Ansatz dafür sollte aber sein: nicht auf Kosten der Schwächeren, nicht der Flüchtlinge – und auch nicht der Mittelmeer-Staaten.

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