Berlin.

Es gilt das Murphy-Prinzip. Das besagt: Alles, was schief gehen kann, geht auch schief. Und an diesem Tag bewahrheitet es sich für Horst Seehofer. Am Morgen hört der Innenminister vom Selbstmord eines Afghanen, dessen Abschiebung er begrüßt hatte. Mittags simst ihm sein CSU-Sprecher, Büroleiter und Vertrauter Jürgen Fischer, dass in den sozialen Netzwerken ein „Shitstorm“ laufe. Am Abend zeigt Seehofer eine Reaktion. Sie soll nicht gefühllos, aber ebenso wenig wie eine Verteidigung, wie eine Selbstanklage klingen. Seehofer ist in Innsbruck bei der Konferenz der EU-Innenminister, als er sagt, „das ist zutiefst bedauerlich, und wir sollten damit auch sachlich und rücksichtsvoll umgehen“. Zu spät. Da ist er längst der Fiesling der Woche.

Seehofer galt einst als„Herz-Jesu-Sozialist“

Aus der Opposition wie von Teilen des Koalitionspartners SPD wird sein Rücktritt gefordert. Vielfach werden ihm Empathie und Taktgefühl abgesprochen. Die „Süddeutsche Zeitung“ folgert, „Seehofer hat den Anstand verloren.“ Daran gebe es keinen Zweifel.

Seehofer wird nicht zurücktreten, er wird bei nächster Gelegenheit den Journalisten genüsslich abermals zurufen: „Ich überlebe euch alle.“ Der CSU-Chef hat gelernt, Einsamkeit zu ertragen. Wenn ihm diese Tage nahegehen, macht er auch das mit sich selbst aus.

Gerade in der Bedrängnis schauen Politiker nicht nur darauf, wer sie angreift, sondern mehr noch, wer sie stützt. In der Union stehen sie nicht Schlange. Das allgemeine Fremdschämen ist ansteckend. Dass die Chefin der AfD-Fraktion, Alice Weidel, „Pure Heuchelei um #Seehofer“ twittert, dürfte er wiederum als vergiftete Rücksichtnahme empfinden.

Eine Ausnahme aus den eigenen Reihen ist Michael Kuffer, CSU-Bundestagsabgeordneter aus München. Er postet auf Facebook, die Empörung sei „geheuchelt“, intellektuell „unredlich“, in der Sache „nachgerade dümmlich“. Kuffer geht zum Ursprung der Aufregung zurück: zur Pressekonferenz am Dienstag, auf der Seehofer seinen Masterplan Migration vorstellt. Dabei erwähnt er, dass zu seinem 69. Geburtstag genauso viele Flüchtlinge nach Afghanistan abgeschoben worden seien. Er hat den Zufall weder bestellt noch ein Geschenk genannt, aber womöglich insgeheim genossen. Denn er lächelt über die hohe Zahl. Kaum im Amt, und die Abschiebezahlen nehmen zu. Mit den Betroffenen hat er wenig Mitleid. Zurück in den Hindukusch wurden zuletzt vor allem jene Flüchtlinge geführt, die Straftäter oder Gefährder sind. Das gilt auch für das Suizidopfer in einem Übergangswohnheim in Kabul. Die Abschiebung hatte das rot-grün regierte Hamburg angeordnet. Seehofer ist fassungslos, weil nicht der Senat am Pranger steht, sondern er. Die frühere Bundestagsvizepräsidentin Renate Schmidt (SPD) schrieb ihm: „Menschen wissentlich ertrinken zu lassen wird von Ihnen als Teil der Lösung des Flüchtlingsproblems gesehen. Ab sofort sind die bisher 1400 Toten im Mittelmeer auch Ihre Toten.“ Im politischen Berlin ist er quasi vogelfrei. Auf der Pressekonferenz am Dienstag hatte er noch beteuert: Dass kein Flüchtling kommen solle, „das ist nicht mein Kriterium“. Er will Zuwanderung begrenzen, nicht ausschalten. Früher, am Anfang seiner Karriere in den 90er-Jahren, hätte man es ihm umstandslos abgenommen. Da galt er als Linker in der Union, als „Herz-Jesu-Sozialist“. Ihm müssten die Ohren klingen, wenn er seinem damaligen Förderer Norbert Blüm (CDU) zuhört. Der Ex-Sozialminister sagt im „Kölner Stadt-Anzeiger“: „Es ist für eine christliche Partei eine Schande, so über Menschen zu reden – als handele es sich bei Flüchtlingen um Kartoffelsäcke.“ Die AfD müsse bekämpft „und nicht imitiert werden“. Und: „Ein Trump langt.“ Ein Schelm, wer da nicht gleich an Seehofer denkt.

Er glaubt, besser als Merkel die Stimmung zu kennen

Etwas verhärtet sich, als die Kanzlerin im September 2015 die Grenzen öffnet. Als bayerischer Ministerpräsident übt er massiv und laut Kritik – sie gibt sich gelassen. Er zieht daraus wiederum zwei Schlüsse, die sein Verhalten bis heute erklären. Er glaubt, dass Merkel nur auf maximalen Druck reagiert und nicht weiß, was die Bürger bewegt. Berlin-Mitte wird für ihn zum Synonym für bürgerferne Politik. Wie zur Selbstimmunisierung hat er sich bis heute nicht um eine Wohnung in Berlin gekümmert. Er übernachtet im Ministerium und taktet die Woche so, dass er möglichst donnerstags nach Ingolstadt fahren kann. Auch gestern ließ er sich von Innsbruck nach Manching fliegen und weiter nach Hause fahren.

Über das Wochenende kann er in Umfragen Trost suchen, die ihm seine Getreuen zusammentragen haben. Auf die Frage, ob Deutschland eine strengere Flüchtlingspolitik brauche, antworten 79 Prozent in einer Umfrage des Instituts GMS für Sat. 1 Bayern mit „Ja“. Im „Bayerntrend“ vom BR erklären drei von vier CSU-Anhängern, dass sie mit Merkels Asylpolitik „weniger/gar nicht zufrieden seien“. Zustimmung erfährt sie im Freistaat mehrheitlich von Grünen. Seehofer wird sich bestätigt fühlen. In seiner Parallelwelt hilft das wenig, in Berlin-Mitte.