München .

Eine Entschuldigung kam nie. Nicht von den Polizisten, die seinen Vater für einen Drogendealer hielten. Nicht von den Beamten, die ihren Firmenwagen abhörten und ihre Wohnung durchsuchten. Nicht von den Verfassungsschützern, die Geld an Spitzel in der Szene gaben, in deren Dunstkreis die Mörder seines Vaters ihre Verbrechen vorbereitet hatten. Niemand sei zu ihnen gekommen, in all den Jahren. So erzählt es Abdulkerim Simsek. Er ist der Sohn von Enver Simsek, dem ersten der zehn Mordopfer des rechtsterroristischen „Nationalsozialistischen Untergrunds“ (NSU).

Entschuldigt hat sich die Kanzlerin. Als Angela Merkel 2012 die Familien der Opfer nach Berlin einlud, sagte sie auch, dass die Behörden alles tun würden, um die „Morde aufzuklären und die Helfershelfer und Hintermänner aufzudecken“. Abdulkerim Simsek erzählt, dass ihm dieses Versprechen damals sehr viel bedeutet habe. Aber er sagt auch: „Sie hat ihr Versprechen nicht gehalten.“ Heute will der Richter am Oberlandesgericht in München ein Urteil über das fällen, was am 9. September 2000 begann, als acht Schüsse Abdulkerim Simseks Vater treffen. Enver Simsek, Blumengroßhändler in Süddeutschland, ist das erste Opfer des NSU um Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt, Beate Zschäpe.

Enver Simsek, damals 38 Jahre alt, liegt mit dem Rücken auf der Ladefläche des Mercedes Sprinter. Noch lebt er. Aus dem Fahrzeug heraus hat Simsek an diesem Sonnabend in der Liegnitzer Straße in Nürnberg seine Blumen verkauft. Er half aus, weil sein Verkäufer an diesem Spätsommertag Urlaub hatte. Am Nachmittag näherten sich zwei Männer dem Wagen, sie trugen Pistolen bei sich. Abdulkerim Simsek war damals 13 Jahre alt. Heute ist er 30. Am Tag vor dem NSU-Urteil gegen Zschäpe und weitere Angeklagte ist er mit seiner Anwältin nach München gekommen. Jetzt sitzt er auf dem Podium im „Eine Welt Haus“ in der Innenstadt. Simsek trägt schwarzes Sakko, dunkelrotes Hemd. Das Scheinwerferlicht erhitzt den Raum, in dem mehr als 100 Journalisten auf seine Worte warten. Dann beginnt er: „Ich frage mich oft, was mein Vater gefühlt haben muss, als auf ihn geschossen wurde. Was er fühlte, als er auf dem Boden lag. Als er stundenlang Schmerzen hatte.“

Neben Simsek sitzt Gamze Kubasik, die Tochter von Mehmet Kubasik, der 2006 in Dortmund erschossen wurde. Auf dem Podium sind auch Opfer des Nagelbombenanschlags in Köln, auch dieses Attentat soll auf das Konto des NSU gehen. Simsek und Kubasik sagen, dass sie müde seien. Und dass sie trotzdem ihre Stimme erheben wollen. Auch, weil für sie noch kein Schlussstrich unter die Aufklärung gezogen ist. Im Gegenteil, sagt Simsek, er habe noch viele Fragen. Nichts sei geklärt.

September 2000. Am Tag nach der Tat beginnt die Polizei in Nürnberg, Abdulkerim Simseks Mutter Adile als Zeugin zu vernehmen. Ihr Ehemann Enver liegt noch im Krankenhaus. „Wissen Sie, was Schutzgelderpressung ist?“, fragt der Polizist. „Kann die Tat mit der PKK zu tun haben?“ Adile Simsek weiß von nichts, sagt es immer wieder. Es sind die letzten Stunden im Leben ihres Mannes. Etliche Male werden die Ehefrau und andere Angehörige in den kommenden Wochen vernommen. Die Ermittler verwanzen den Transporter des Blumengeschäfts, sie hören die Telefone ab, sie durchsuchen die Wohnung der Familie. Die Mutter bricht zusammen, weint, als die Polizisten im Wohnzimmer stehen. Hatte ihr Mann Feinde? Streit in der Familie? Geldsorgen? Mafia? „Wir haben erfahren, dass Enver Streckmittel für Heroin von Holland nach Deutschland gebracht hat“, sagt ein Polizist laut Akte in einer der Vernehmungen. Das könne sie sich nicht vorstellen, sagt Adile Simsek. In den Protokollen der Polizei ist notiert, wie die Frau weint. Einmal antwortet sie: „Mein Mann und ich hatten nie Probleme, ich habe ihn sehr lieb.“ Die Vorwürfe bleiben haltlos.

Es ist nicht ungewöhnlich, dass Polizisten nach einem Mord in der Familie des Opfers ermitteln. Im Gegenteil: Die große Mehrzahl der Täter kommt aus dem Umfeld des Opfers. Doch auch nach Monaten und Jahren, als die angeblichen Spuren zur Mafia, zum Drogenmilieu, zu fremden Beziehungen nichts ergeben hatten, wechselten sie nicht den Kurs. Jahrelang gingen die Ermittler allen möglichen Theorien nach – dass Rechtsextremisten aus Hass gemordet haben könnten, blieb höchstens eine Fußnote.

Angehörige geben den Toten ein letztes Mal eine Stimme

Immer wieder sagen Angehörige der Opfer im Prozess gegen Zschäpe seit 2013 vor dem Münchner Oberlandesgericht aus. Väter, Brüder, Ehefrauen, Töchter. Mit bewegten Worten schildert Ali Tasköprü den Tod seines Sohns Süleyman. „Er ist in meinen Armen gestorben.“ Tasköprü war das dritte Opfer. Tatort: Hamburg, 2001.

Als der Richter Ismail Yozgat fragt, wie er seinen Sohn gefunden habe, legt sich der Vater auf den Boden des Gerichtssaals, zeigt die Position, wie er seinen Sohn Halit auf dem Fußboden des Internetcafés gefunden hatte. Tatort: Kassel, 2006. Dann sagt Ismail Yozgat in Richtung Beate Zschäpe: „Mit welchem Recht haben Sie das getan?“ Die Angehörigen geben ihren toten Kindern, Männern, Eltern ein letztes Mal eine Stimme.

Am 402. Verhandlungstag ist Abdulkerim Simsek an der Reihe, es ist Januar 2018. „Ich habe sechs Löcher in der Leiche meines Vaters gezählt. Ich werde das nie vergessen, mir war klar, dass er von diesem Moment an nicht mehr derselbe sein würde oder sterben würde.“ Stille in Saal A 101. Wenn Abdulkerim Simsek heute, am Tag vor dem NSU-Urteil, von seinem Vater, dem Prozess gegen Zschäpe erzählt, zieht er manchmal die Augenbrauen kurz hoch, wenn er spricht, als könnte er seine eigene Geschichte noch immer nicht fassen. Simsek hat Fragen. Warum wurde ausgerechnet mein Vater ermordet? Glaubt die Staatsanwaltschaft immer noch daran, dass nur ein Trio zur Terrorzelle gehörte, wenn es doch so viele Hinweise auf weitere Mitwisser gab? „Mich macht es wütend“, sagt Abdulkerim Simsek, „weil ich weiß, dass da immer noch Neonazis des NSU draußen frei durch Deutschland laufen.“

Das Vertrauen in die Worte der Kanzlerin über eine schonungslose Aufklärung sei groß gewesen, sagen Gamze Kubaschik und Simsek. Es war eine erste Hoffnung in diesen Staat, der sie erst nicht schützen konnte und sie dann falsch verdächtigt hatte. Doch was sie in dem Verfahren gegen Zschäpe und in den NSU-Untersuchungsausschüssen erlebt hätten, sei eine Enttäuschung gewesen. Aussagen von Polizeibeamten seien ausweichend gewesen, manchmal hätten sie gar nichts sagen dürfen, Ansage der Amtsleitungen. Und nicht alle Akten zur Mordserie konnten offengelegt werden, mit der Begründung: Schutz vor Persönlichkeitsrechten von Behördenmitarbeitern. „Nicht jeder in Deutschland muss diese Akten kennen, aber warum bitte können unsere Anwälte sie nicht einsehen?“, fragt Simsek.

Der junge Abdulkerim Simsek hat erlebt, wie seine Mutter krank wird. In der Schule verheimlicht Simsek, dass sein Vater ermordet wurde. Er habe ihn schützen wollen. Doch die Verdächtigungen gegen seine Familie sickern bis zu den Freunden durch, bis in den Verein, in die Nachbarschaft. Kurz nachdem bekannt wird, dass Rechtsextremisten Enver Simsek und neun andere Menschen ermordet haben sollen, entscheiden sich Simseks Schwester und Mutter, Deutschland zu verlassen. Sie gehen zurück in die Türkei. Die Schwester Semiya heiratet dort, lebt in der Nähe des Dorfes, aus dem ihr Vater stammt – und wo er begraben liegt.

Und Semiya Simsek schreibt ein Buch. Sie will den Opfern damit eine Stimme geben, erzählt von den Jahren nach dem Mord und der Angst vor rechtem Terror in Deutschland. Der Titel: „Schmerzliche Heimat“.

Abdulkerim Simsek bleibt in Deutschland. Er studiert Medizintechnik, jetzt steht er kurz vor seinem Abschluss. In einem Haus in Süddeutschland wohnt er mit seiner Familie. Seine Frau und er haben eine zwei Jahre alte Tochter. Warum ist er geblieben, nach alldem? „Das hier ist mein Land“, sagt Simsek. „Ich stehe zu Deutschland.“