London.

Auch wenn sich in der Londoner Politik derzeit einige selbst vom Platz stellen: Die Briten fiebern vor allem dem WM-Halbfinale England gegen Kroatien am heutigen Mittwoch entgegen. Der Rasensport, im Mutterland des Fußballs traditionell die „schönste Nebensache der Welt“, wird auf einmal zur Hauptsache. Die erbitterte Debatte rund um den Brexit mit zwei spektakulären Minister-Rücktritten ist nur noch Nebensache. Das Massenblatt „Sun“ bringt die Stimmung in einer Fotomontage auf den Punkt: „Wisst ihr nicht, dass da ein verdammtes Spiel ansteht?“, fragt da ein vergrätzter Boris Johnson im England-Trikot.

Ausgerechnet der Brexit-Hardliner Johnson, der am Montag als Außenminister hinschmiss – aus Protest gegen die aus seiner Sicht zu EU-freundliche Linie von Premierministerin Theresa May. Die Regierungschefin machte hingegen auf cool. Sie sprach nach der ersten Zusammenkunft ihres umgebauten Kabinetts am Dienstag von einer „produktiven Sitzung“ und twitterte danach ihre guten Wünsche an die englische Fußballmannschaft.

Mays Appell an den „Teamgeist“ verpuffte

Schon bei der Klausur in ihrem Landsitz Chequers am Freitag hatte Theresa May an ihre Regierungsmannschaft appelliert, den gleichen „Teamgeist“ zu beweisen wie die Kicker mit den drei Löwen auf dem Hemd. Doch kurz darauf traten zuerst Davis, danach Johnson zurück. Beide warfen May vor, dass ihre Brexit-Strategie den Volksentscheid für den EU-Austritt vom Juni 2016 aufweiche, wenn nicht gar verrate. Sie wollten dieses schäbige Spiel nicht mitspielen, stichelten sie. Damit verlor May zwei ihrer populärsten Sturmspitzen für den Brexit. Die Premierministerin schien ins Abseits zu geraten. Am Dienstag kündigten zudem die beiden Vize-Vorsitzenden der konservativen Partei, Ben Bradley und Maria Caulfield, ihren Rücktritt an.

Doch May bleibt am Ball. Sie ersetzte Davis und Johnson sofort durch Gefolgsleute. So wird der bisherige Gesundheitsminister Jeremy Hunt Außenminister. Zudem handelte sie nach dem Motto „Angriff ist die beste Verteidigung“. In einer zweistündigen Fragestunde im Parlament stellte sie leidenschaftlich ihr Verhandlungskonzept vor, mit dem die Briten nach einer zweijährigen Flaute bei den Brexit-Gesprächen in Brüssel endlich punkten wollen.

May mauert zwar gegen den Verbleib im europäischen Binnenmarkt und in der Zollunion. Gleichzeitig hofft sie, dass sich die EU auf ein „ gemeinsames Regelwerk“ einlässt. Dies soll wie bisher den reibungslosen Handel mit Gütern und landwirtschaftlichen Produkten zwischen der EU und Großbritannien ermöglichen. Trotzdem bekäme das Königreich seine uneingeschränkte Souveränität über seine Gesetze und Grenzen zurück und könnte Freihandelsabkommen mit Drittländern schließen, unterstrich May. Das Lager der fanatischen „Brexitiers“ protestierte sofort. Aus dem „Brexit“ habe die Premierministerin einen „Bino“ gemacht – einen „Brexit in name only“, einen „Brexit nur dem Namen nach“.

Das Königreich müsse nach dem Austritt wirtschaftlich praktisch ohne Mitsprache nach der Pfeife Brüssels tanzen. Eingefleischte „Brexitiers“ wie der konservative Abgeordnete Andrew Bridged drohten, dass sich die Partei wohl nach einem neuen Führer umsehen müsse. Er gehört der etwa um 50 Mitglieder starken Gruppe um Jacob Rees-Mogg an. Dieser trägt wegen seiner ul­trakonservativen Ansichten den Spitznamen „der ehrenwerte Abgeordnete für das 19. Jahrhundert“.

Zahlenmäßig hätte diese Gruppe wohl die Möglichkeit, die 48 Unterschriften zusammenzubekommen, die den parteiinternen Neuwahlprozess für den Vorsitz der Konservativen Partei in Gang setzt. Doch für die Abwahl Theresa Mays wäre die Stimmenmehrheit der 316 konservativen Abgeordneten notwendig. Dies ist derzeit völlig unrealistisch: Mehr als zwei Drittel der Fraktion waren vor dem Brexit-Referendum für den Verbleib in der EU eingetreten und hatten sich nur zähneknirschend dem „Willen des Volkes“ gebeugt. Sie halfen May mit ihrer Strategie für einen „weichen Brexit“ an die Macht.

Damit bestehe die Chance, einen verhängnisvollen Austritt ohne Verhandlungsergebnis in Brüssel zu vermeiden. Dies ist auch die Hoffnung der britischen Wirtschaft und der 48 Prozent der Briten, die gegen den EU-Austritt stimmten und jetzt wenigstens einen einigermaßen erträglichen Kompromiss mit Brüssel wünschen.

May braucht im Augenblick noch keinen Konkurrenten für den Parteivorsitz fürchten. Boris Johnson, den die Wirtschaftszeitung „Financial Times“ einmal als den „unfähigsten Außenminister dieses Jahrhunderts“ abqualifiziert hatte, hat durch seine Patzer im Amt und seine selbstversessene Art viel an Popularität bei seinen Fraktionsfreunden verloren. Johnson und der auf viele snobistisch wirkende Konservative Jacob Rees-Moog werden von den meisten Briten eher als Karikatur gesehen. Vor allem sorgen sich die Konservativen, dass ein Führungswechsel in ihrer Partei die große Chance für Labour-Chef Jeremy Corbyn werden könnte, die „chaotische Regierung“ zu ersetzen. Ein „harter Sozialist“ in der Downing Street ängstigt die Torys noch mehr als ein „weicher Brexit“.

Nach dem Abtritt von Davis und Johnson braucht Theresa May nicht mehr Querschüsse aus ihrem Kabinett zu fürchten, wohl aber Heckenschützen auf den Hinterbänken ihrer Fraktion. Das Unterhaus muss letztendlich über das Verhandlungsergebnis in Brüssel abstimmen. Und wenn dieses nicht den Erwartungen der Opposition entspricht, könnte es dazu kommen, dass verzweifelte „Brexitiers“ mit Labour, der schottischen Nationalpartei, den Liberaldemokraten und den Grünen gegen die Minderheitsregierung stimmen. Erst dann würde es eng für May.

Doch danach sieht es nicht aus. Am Dienstag eröffnete die Premierministerin den EU-Westbalkan-Gipfel in London. Europäische Regierungschefs – darunter Bundeskanzlerin Angela Merkel – sprachen mit ihren Amtskollegen aus Albanien, Bosnien-Herzegowina, Kosovo, Mazedonien, Montenegro und Serbien. Es ging um wirtschaftliche Zusammenarbeit und eine schnellere Annäherung an Brüssel. Da war May wieder auf dem großen Spielfeld.