Ankara.

Zwei Wochen nach der gewonnenen Wahl rechnet der türkische Staatschef Recep Tayyip Erdogan mit seinen vermeintlichen Gegnern ab: Per Dekret ordnete Erdogan am Sonntag die Entlassung von 18.632 Staatsbediensteten an. An diesem Montag tritt Erdogan seine neue Amtszeit als Präsident an. Er hatte sich bei der Wahl am 24. Juni mit 52,5 Prozent Stimmenanteil durchgesetzt.

Unter dem Ausnahmezustand, der seit dem Putschversuch vom Juli 2016 in der Türkei gilt, kann Erdogan per Dekret regieren. Nach Angaben der türkischen Menschenrechtsplattform (Ihop) wurden nach dem Putschversuch bereits 112.697 Staatsbedienstete und Lehrer privater Schulen mit solchen Dekreten entlassen. Mit den neuen Entlassungen steigt die Zahl auf über 131.000.

Erdogan soll am Montagnachmittag in Ankara seinen Amtseid als neuer Staatschef ablegen. Damit wird der Übergang zum neuen Präsidialsystem vollzogen, das dem Staatsoberhaupt erheblich erweiterte Befugnisse gibt. Das Amt des Regierungschefs wird abgeschafft, seine Kompetenzen gehen auf den Präsidenten über. Er kann Dekrete mit Gesetzeskraft erlassen, eine Zustimmung des Parlaments ist nicht erforderlich.

Nach der Vereidigung will Erdogan am Montagabend sein Kabinett vorstellen. Bei der Ernennung der Regierung hat der Staatschef völlig freie Hand. Die Minister und die Vizepräsidenten sind nicht mehr dem Parlament verantwortlich. Unter dem neuen System beruft Erdogan auch rund 500 leitende Staatsbeamte. Er bestimmt über die Rektoren der Universitäten und hat entscheidenden Einfluss auf die Berufung der obersten Richter. Erdogan verspricht, das neue System werde die Macht bündeln und so in der Politik „schnelle Entscheidungen“ ermöglichen. Seine Kritiker fürchten, die Türkei werde in eine Diktatur abgleiten. Die Massenentlassungen vom Sonntag scheinen diese Sorge zu bestätigen.

9000 Polizisten unter den Entlassenen

Erdogan hat zwar ein Ende des Ausnahmezustandes angekündigt. Er könnte möglicherweise bereits an diesem Montag aufgehoben werden. Vorher machte er aber von den Notstandsbestimmungen mit dem am Sonntag in Kraft gesetzten Dekret Nr. 701 noch einmal kräftig Gebrauch. Unter den Entlassenen sind mehr als 6000 Soldaten, rund 9000 Polizisten sowie Hunderte Ministerialbeamte, Lehrer, Professoren und Universitätsmitarbeiter. Auf 461 Seiten listet das Dekret die Namen und Adressen der gefeuerten Staatsdiener auf, die damit nun öffentlich am Pranger stehen. Ihre Reisepässe wurden annulliert, sie dürfen das Land nicht mehr verlassen. Mit dem Dekret werden auch zwölf Vereine, drei Zeitungen und ein Fernsehsender geschlossen. Zur Begründung heißt es pauschal, die Betroffenen hätten Verbindungen zu „Terrororganisationen, die gegen die nationale Sicherheit arbeiten“. Damit dürfte die Bewegung des Predigers Fethullah Gülen gemeint sein.

Gülen setzte sich 1999 in die USA ab, um einer drohenden Verhaftung wegen islamistischer Umtreibe zu entgehen. Aus seinem Domizil, einem ehemaligen Landschulheim in der kleinen Ortschaft Saylorsburg in Pennsylvania, steuerte Gülen ein weltweites Netz von Stiftungen, Bildungseinrichtungen und Medien. In der Türkei hatte Gülen Hunderttausende aktive Anhänger. Lange waren er und Erdogan enge Verbündete. Nach dem Wahlsieg der islamisch-konservativen Erdogan-Partei AKP 2002 arbeiteten beide daran, die Vertreter der kemalistischen Elite aus dem Staat zurückzudrängen und Schlüsselpositionen in der Verwaltung, der Justiz, dem Bildungswesen, den Streitkräften und bei der Polizei mit eigenen Leuten zu besetzen. So konnte Gülen große Teile des Staatsapparats unterwandern – und wurde Erdogan schließlich zu mächtig. 2013 kam es zum Bruch. Erdogan sieht in seinem früheren Verbündeten Gülen den Drahtzieher des Putschversuchs. Gülen bestreitet die Vorwürfe. Heute ist das Gülen-Netzwerk weitgehend zerschlagen, seine Bewegung gilt offiziell als Terrororganisation unter dem Kürzel „Fetö“.

Rund 50.000 entlassene Staatsbedienstete sitzen in Untersuchungshaft und warten auf ihre Anklage. Auch fast zwei Jahre nach dem Putschversuch gehen die „Säuberungen“ unvermindert weiter, wie die am Sonntag angeordneten Entlassungen zeigen. Kaum ein Tag vergeht ohne Festnahmen mutmaßlicher Gülen-Anhänger.