Berlin.

Claus-Peter Reisch ist jemand, der nicht nur klare Worte findet, sondern der auch sehr emotional werden kann. „Die EU nimmt das Sterben aus politischen Gründen in Kauf“, sagt er am Mittwoch in Malta. „Das ist widerlich.“ Reisch wurde am Montag gegen eine Kaution von 10.000 Euro auf freien Fuß gesetzt, darf Malta aber nicht verlassen. Er selbst fühle sich keiner Schuld bewusst. „Unsere Mission hat bisher 234 Menschen gerettet“, sagt er und wundert sich, warum statt seiner nicht die libysche Küstenwache vor Gericht stünde. Sie habe ihn „noch vor Kurzem mit dem Tod bedroht“. Zudem würden bei „Rettungen“ der Küstenwache regelmäßig Migranten sterben.

An diesem Donnerstag muss sich der Kapitän der „Lifeline“ in Malta vor Gericht verantworten. Die Behörden werfen ihm und seiner Crew vor, sich Anweisungen widersetzt und gegen internationales Recht verstoßen zu haben. Sein Schiff sei in den Niederlanden falsch registriert, hieß es. Der Sprecher des deutschen Rettungsschiffs sieht keine Schuld beim Team. „Die Vorwürfe sind haltlos“, sagt Axel Steier dieser Zeitung, „und wir werden morgen vor Gericht sehen, dass sie keinerlei Beweise für ihre Behauptung haben.“ Aufgeben wollen man aber die Rettung noch nicht, sagt Steier weiter. „Wir arbeiten bereits an einer alternativen Rettungsaktion“, sagte er, ohne weitere Details zu nennen.

Jan Böhmermann sammelt 145.000 Euro für „Lifeline“

Insgesamt geht laut der Internationalen Organisation für Migration (IOM) die Zahl der Menschen, die aus Afrika Europa über das Mittelmeer erreichen, drastisch zurück. In den ersten sechs Monaten dieses Jahres waren 46.000 Migranten. 2017 im gleichen Zeitraum fast 120.000 Menschen. Die Zahlen sind jedoch weiter hoch. Und in der EU läuft die Debatte über die Asylpolitik auf Hochtouren. Es geht um Transitzentren und Verwaltungsabkommen. Und es geht um die Kontrolle an den Außengrenzen der EU – und diese Grenze liegt am Mittelmeer. Dort, wo Kapitän Reisch die „Lifeline“ steuerte. Der Vorwurf mancher europäischer Innenminister an Helfer wie ihn ist hart: Er rette zwar Leben – aber er befeuere damit das Geschäft illegaler Schleuser. Andere sind beeindruckt davon, dass Menschen aus Deutschland oft wochenlang freiwillig Flüchtlinge aus der Seenot retten. TV-Moderator Jan Böhmermann sammelte 145.000 Euro für die „Lifeline“.

Sechs Tage lang kreuzte das Schiff im Juni im Mittelmeer, an Bord 230 gerettete Menschen, bevor es vor einer Woche in den Hafen von Valletta einlaufen durfte. Zuvor hatten acht EU-Staaten die Aufnahme der Flüchtlinge an Bord zugesagt. Die „Lifeline“ ist nicht das einzige Seenotrettungsboot, dessen Aktionen umstritten sind. So darf ein Schiff der Berliner Rettungsorganisation Sea-Watch derzeit den maltesischen Hafen nicht verlassen. Derzeit dürfe das Boot nicht ablegen, weil laut Behörden auf Malta die Papiere für das Schiff überprüft würden. Auch ihr Flugzeug „Moonbird“, mit dem sie nach gekenterten Booten Ausschau halten, darf derzeit nicht starten.

Ruben Neugebauer von Sea-Watch rettet seit 2015 Menschen im Mittelmeer. Am Telefon erzählt er, wie sie einmal ein 16 Jahre altes Mädchen aus einem der überfüllten Schlauchboote gerettet haben. Sie atmete nicht. An Bord der „Sea-Watch“ versuchten sie die erste Reanimierung. Der Puls des Mädchens kam wieder, wurde schwächer, kam wieder. „Dann kam der Hubschrauber, der sie in ein Krankenhaus bringen sollte“, sagt Neugebauer. Auf dem Flug dahin starb die junge Frau. Noch schlimmer als damals aber sei es jetzt: „Ein Team an Land zu haben, ein Boot dazu – und nicht zum Einsatz ausrücken zu dürfen.“

Was kaum jemand in Deutschland bemerkt: Der Juni war der Monat, in dem es im Mittelmeer die meisten Tote gab. Seit 2014 zählt IOM die ertrunkenen Menschen. Im Juni 2018 waren es 629 Tote. Es ist die Zeit, in der die „Lifeline“ und die „Sea-Watch“ die Sanktionen der maltesischen Behörden spüren. Es ist auch der Monat, in dem das Rettungsschiff „Aquarius“ tagelang um Einlass in europäische Häfen bangen musste. Erst am 17. Juni konnten die 630 Flüchtlinge an Land gehen. Deren Organisation SOS Mediterrannee verurteilte die „erzwungene und inakzeptable Odyssee“ scharf. Geschäftsführerin Verena Papke sagt dieer Zeitung, dass sie mit ihrem Schiff zwar derzeit in Marseille ausharren. „Wir planen fest, wieder auszufahren“, sagt sie, „aber müssen derzeit noch evaluieren, auf welcher rechtlichen Grundlage wir handeln.“

Dem häufig geäußerten Vorwurf, Projekte wie Lifeline und Sea-Watch würden einen Anreiz für Flüchtlinge schaffen, widerspricht Papke. „Vier von fünf Geretteten werden von zufällig vorbeifahrenden Schiffen gerettet“, sagt sie, „nicht von Projekten wie unserem.“ Eine aktuelle Studie der Universität Oxford untermauert diese Aussagen: Demnach bleiben die Zahlen der Flüchtlingsboote konstant – oder sie verringert sich gar, wenn es freiwillige Rettungsschiffe gab. Fehlt die Seenotrettung, steigt aber die Zahl der Ertrunkenen.