Berlin.

Eine DIN-A4-Seite, drei Punkte – so knackig, so übersichtlich, so einfach kann Politik sein. Die Einigung von CDU und CSU vom Montag zur „besseren Ordnung, Steuerung und Verhinderung der Sekundärmigration“ hat die Unionsparteien befriedet. Allein taugt der Dreisatz auch in der Praxis? Was wurde beschlossen im Umgang mit Flüchtlingen, die zwar vor Krieg und Verfolgung sicher sind, jedoch aus einem anderen EU-Staat nach Deutschland drängen – sogenannten Sekundärmigranten? Ein Faktencheck.

Das „neue Grenzregime“

An der Grenze zu Österreich sollen alle Asylbewerber an der Einreise gehindert werden, für deren Verfahren andere EU-Länder zuständig sind, wie es im ersten Punkt der Vereinbarung heißt. Solche Migranten kann die Bundespolizei aus dem Flüchtlingsstrom herausfischen, weil sie den Zuwanderern die Fingerabdrücke abnimmt und diese mit den Daten, die zentral bei Eurodac gespeichert sind, abgleicht. Bei Mehrfachregistrierung weist die Statistik jeweils den ältesten Eurodac-Treffer aus.

Allein zwischen dem 1. Januar und dem 13. Juni dieses Jahres kam die Bundespolizei auf 18.349 Treffer. Bloß: Die Flüchtlinge, die jünger als 14 Jahre sind, werden bei Eurodac nicht erfasst. Und: Die Migranten müssen auch nicht alle via Österreich nach Deutschland kommen. „Die Union verkauft eine Symbolpolitik als Lösung für die Flüchtlingspolitik an der Grenze. Das ist nicht mehr als schöner Schein“, kritisiert der Vizechef der Gewerkschaft der Polizei (GdP), Jörg Radek, selbst Bundespolizist. Derzeit seien Kontrollen nach EU-Recht nur an der deutsch-österreichischen Grenze möglich. „An den anderen Tausenden Kilometern deutscher Grenze passiert nichts.“ Das führe zu Ausweichbewegungen von Flüchtlingen und Mi­granten.

Natürlich ist Österreich ein klassisches Transitland für Menschen, die aus Italien oder – über die Balkanroute – aus Griechenland kommen. Das ist zwar fast die Mehrheit. Aber wenn sich ein neues Grenzregime über die sozialen Netzwerke herumspricht, dann können sie ihre Routen ändern und zum Beispiel über Tschechien und Polen einreisen. Deutschland hat Grenzen mit vielen Staaten: Dänemark, Frankreich, den Benelux-Ländern, der Schweiz.

Die ungleiche Praxis ist denn auch der Hauptkritikpunkt der GdP. Radek untermauert sie mit den Fallzahlen zur illegalen Einreise aus dem Jahr 2017. Damals standen 16.312 unerlaubte Einreisen über die Alpenrepublik 33.823 unerlaubten Einreisen über andere deutsche Grenzbereiche gegenüber.

Fazit: Die Selbstbeschränkung auf die Übergänge nach Österreich ist bestenfalls eine halbe Lösung. Und was ist mit der sogenannten grünen Grenze? Einen Vorteil hätte die Bevorzugung allerdings schon. Es ist schließlich nicht irgendeine Grenze, sondern die zwischen Österreich und Bayern. Die Staatsregierung, die bajuwarische CSU und ihr Innenminister Horst Seehofer sind die Treiber des „Asylkompromisses“.

Die „Transitzentren“

An der Grenze zur Alpenrepublik sollen nach den Plänen der Union „Transitzentren“ eingerichtet werden. So steht es im zweiten Satz ihrer Verabredung. Es ist eine alte Idee, die in der Vergangenheit am Widerstand der SPD gescheitert ist. Nun also: ein zweiter Aufguss. Diese Zentren sind nichts anderes als Auffanglager. Dort angekommen, befinden sich Flüchtlinge nicht wirklich in Deutschland. „Fiktion der Nichteinreise“ heißt es im Juristendeutsch. Hier soll sich diese Gruppe von Migranten aufhalten und von dort „in die zuständigen Länder zurückgewiesen werden“.

Allerdings soll die Bundesrepublik nicht unabgestimmt handeln, „sondern mit den betroffenen Ländern Verwaltungsabkommen abschließen oder das Benehmen herstellen“, wie es in der Vereinbarung heißt. Laut Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) sind folgende Länder zweifelsfrei offen für solche Gespräche: Belgien, Dänemark, Estland, Finnland, Frankreich, Litauen, Lettland, Luxemburg, die Niederlande, Portugal und Schweden. Die Kanzlerin hofft, mit Griechenland und Spanien bereits in den nächsten vier Wochen handelseinig zu werden. Alle Treffer dieser Staaten im ersten Halbjahr ergeben zusammen genommen rund 6700. Das heißt: weniger als die Hälfte der 18.349. Allein aus Italien kamen im selben Zeitraum 8334, aus Ungarn 559 und aus Österreich 483 Menschen. Die Regierung in Rom sperrt sich gegen ein Abkommen. Die Italiener wollen keine Zuwanderer zurücknehmen. Ihr Interesse ist, dass man ihnen ihrerseits Zuwanderer abnimmt. Schließlich ist Italien eines der Hauptankunftsländer für Flüchtlinge.

Fazit: Abermals Stückwerk. Es hat weder Sinn, die Grenze zu Österreich zu bevorzugen, noch Menschen zurückzuweisen, solange Italien sich sperrt. Wie soll man mit den Flüchtlingen aus Ländern umgehen, mit denen es keine Aussicht auf ein Abkommen gibt wie Italien, Tschechien, Österreich, Ungarn? In den „Transitzen­tren“ können sie schlecht bleiben, einreisen aber auch nicht.

Die Rolle Österreichs

Der dritte und letzte Satz der Vereinbarung legt den Fokus auf Österreich. In den Fällen, in denen sich Länder Verwaltungsabkommen über die direkte Zurückweisung verweigern, finde sie an der deutsch-österreichischen Grenze statt – freilich „auf Grundlage einer Vereinbarung mit der Republik Österreich“. Anders gesagt: Was der Regierung gegenüber Italien, Ungarn oder Tschechien nicht gelungen ist, will sie mit Österreich regeln. Aber die Regierung in Wien gibt sich sperrig. Es hieße ja, dass sie entweder alle Flüchtlinge aus Italien aufnimmt oder ihrerseits ihre Grenzen dichtmacht und Menschen zurückweist. Mit der bisherigen Regelung kann Österreich ­einigermaßen leben, es ist zumeist nur eine Durchgangsstation für Migranten, die nach Deutschland wollen. Eine schnelle Lösung ist nicht in Sicht. Für die GdP ist der Kompromiss der Unionsparteien denn auch eine „Augenwischerei“.

Fazit: Der Kompromiss mag die wenigsten Zuwanderer aufhalten – die Unionsparteien hält er zusammen. Die CSU hat ein „härteres Grenzregime“ durchgesetzt und kann jetzt Ruhe geben – die CDU-Kanzlerin hat die Linie eingehalten, wonach ihre Regierung nicht zulasten Dritter, unilateral und unabgesprochen handelt. In der Praxis ändert sich wenig, das Problem wird kanalisiert.