München.

Hätten sie geschlossen hinter ihm gestanden, „wie eine Eins“, sinniert ein Vertrauter des CSU-Chefs, Horst Seehofer hätte den Konflikt bis zum Ende ausgefochten. Er wäre dem Streit mit Kanzlerin Angela Merkel (CDU) über die Flüchtlingspolitik nicht ausgewichen. So aber bietet er am Sonntag kurz vor 23 Uhr vor den Gremien der Partei an, bis Mittwoch, ausgerechnet zu seinem 69. Geburtstag, seine Ämter als CSU-Chef und Innenminister aufzugeben. „Wir haben nicht mit dieser Wendung gerechnet“, wird Bayerns Ministerpräsident Markus Söder später sagen, „der Horst hat uns sehr überrascht.“ Dafür war Seehofer immer gut.

Der Rückhalt schwindet, von Merkel ist er grob enttäuscht

Vorher wollte die CSU einen „Zwischenschritt“ (Seehofer) einlegen und doch noch einmal mit der CDU reden. Dritte Wendung am Montagabend. So war er immer. So sprunghaft. Wenn man jemandem in der Politik den doppelten Salto mortale (einmal Rücktritt und wieder zurück?) zutraut, dann Horst Seehofer.

Alexander Dobrindt war es, der in dieser Nacht als Erster nach Seehofer redet – und widerspricht. Ein Rücktritt stehe nicht zur Diskussion, meint der Chef der Berliner CSU-Landesgruppe. Einige spekulieren wild, Seehofer habe die Dramaturgie des Abends so angelegt, dass Dobrindt und nicht Söder zur zentralen Figur wird. Söder hat sich zurückgehalten, während Dobrindt das Krisenmanagement an sich zog. Als fast alle weg waren, auch Seehofer, harrte Dobrindt noch in der Parteizentrale aus, besprach sich mit Parteifreunden und stand um zwei Uhr ruhig, konzentriert Rede und Antwort.

Seehofers Gespräch mit Merkel am Sonnabend muss für ihn extrem frus­trierend gewesen sein. Es war nachgerade die Bestätigung eines Satzes, der vielfach kolportiert und nie dementiert wurde: „Ich kann mit dieser Frau nicht arbeiten.“ Wer nach den Gründen für die Eskalation der letzten Tage sucht, kommt um den Punkt nicht umhin: Die Chemie zwischen ihnen stimmte nicht.

Sie sind das Gegensatzpaar der Christdemokraten: Frau/Mann, Ossi/Wessi, Protestantin/Katholik, sie kommt aus einem Pastorenhaushalt, er aus einfachsten Verhältnissen, der Vater Bauarbeiter und Lastwagenfahrer, sie war Wissenschaftlerin, er verließ die Schule mit der mittleren Reife und bezeichnete sich fortan als „Erfahrungsjurist“. Beide bekamen in ihren Parteien erst in schier aussichtslosen Situationen die große Chance: sie nach der Kohl-Affäre, der Mann aus Ingolstadt erst nach dem Verlust der absoluten Mehrheit der CSU in Bayern, beides traumatische Erfahrungen ihrer jeweiligen Parteien.

Der CSU-Chef hat Merkel insbesondere seit 2015 vieles zugemutet. Mal drohte er mit einer Verfassungsklage, mal warf er ihr eine „Herrschaft des Unrechts“ vor, mal stellte er die Maximalforderung nach einer Obergrenze auf. Die Kanzlerin hat nicht nachgegeben, aber sie ist doch jedes Mal der offenen Auseinandersetzung meist ausgewichen. Der Kelch geht so oft zum Brunnen, bis er bricht: Diesmal wagte Merkel die offene Feldschlacht. Als Regierungschefin stoppte sie seinen Masterplan für Zuwanderung und pochte auf ihre Richtlinienkompetenz. Auf diese Weise stellte sie die Rangordnung im Kabinett zur Schau. Vielleicht hat sie die Demütigung kühl kalkuliert, vielleicht war sie auch der Endpunkt eines Zermürbungsprozesses. In jedem Fall war es schwer erträglich für jemanden, der es wie Seehofer gewohnt war, die Weichen zu stellen, nicht nur in seinem Hobbykeller bei seiner Modelleisenbahn, sondern auch als Ministerpräsident.

Der Konflikt erinnert an den Machtkampf Ende der 90er-Jahre zwischen dem damaligen Kanzler Gerhard Schröder und Finanzminister Oskar Lafontaine. Heute wie damals ist der Regierungschef strategisch wie machtpolitisch im Vorteil, weil im Kanzleramt alle Fäden der Macht zusammenlaufen.

Seehofer war zuletzt (waid)wund. Als Ministerpräsident wurde er aus der Staatskanzlei in München herausgedrängt, in Berlin wollte er eigentlich Finanz- oder Sozialminister werden. Für ihn fiel am Ende das Innenministerium ab. Das war von vornherein eine schwierige Konstellation, weil er mit der Materie fremdelte. Vieles in der inneren Sicherheit war ihm neu, die europäische Dimension hat der Nicht-Jurist unter den Innenministern womöglich auch unterschätzt, genauer gesagt: wer dort den Takt gibt, nämlich die Kanzlerin.

Politisch betrat er just das Feld, auf dem die CSU die größten Probleme mit Merkel hat: innere Sicherheit und Zuwanderung. Da war der Dauerkonflikt mit Merkel programmiert. Er wollte die Asylwende, sie kein Dementi ihrer Willkommenskultur zulassen. Vom Beginn der Flüchtlingskrise an im September 2015 ging er auf Gegenkurs zur Kanzlerin. Auch in der Aussprache in München rechnete er vor der CSU-Spitze mit Merkel ab. Sie habe Europa und die Unionsparteien polarisiert, den Aufstieg der AfD begünstigt. Auch das schlechte Abschneiden der CSU bei der Bundestagswahl im September 2017 führen viele darauf zurück, dass die bayerische Partei noch einmal Merkel gestützt hatte.

Die Partei nicht mehr geschlossen

Zum schwierigen persönlichen Verhältnis und zum objektiven Sachdissens – zuletzt wieder bei der Beurteilung der Asylkompromisse des EU-Gipfels, die Seehofer intern „abenteuerlich“ nannte – kam hinzu, dass die Partei nicht mehr geschlossen hinter ihm stand. Deswegen hat er seine Rücktrittsgedanken auch nicht am Anfang, sondern erst am Ende der Sitzung offenbart. Er wollte in Erfahrung bringen, ob alle hinter ihm stehen. In der Diskussion mit fast 60 Wortmeldungen stimmte die große Mehrheit zwar mit der Kritik an Merkel überein. Und doch haben nach Angaben von Teilnehmern viele zur Verständigung aufgerufen, etwa die Europapolitiker und CSU-Vizechefs Angelika Niebler und Manfred Weber, die Altvorderen Erwin Huber und Günther Beckstein, Schatzmeister Thomas Bauer, Entwicklungshilfeminister Gerd Müller und der Abgeordnete Max Straubinger, der offenbar als Einziger gegen Seehofers Masterplan zur Zuwanderung stimmte. Der CSU-Chef spürte, dass seine Partei – anders als die CDU-Führung gegenüber Merkel – nicht geschlossen, geschweige denn einstimmig hinter ihm stand. Er war verbittert, dass manche von ihnen öffentlich darüber sinniert hatten, wie die CSU nachgeben könnte. Das sei „dumm“, schimpfte er.

Es gibt Leute in München, die überzeugt sind, dass es nie so weit gekommen wäre, wenn es nicht zum Wechsel an der Spitze der Berliner Landesgruppe gekommen wäre: von Gerda Hasselfeldt zu Dobrindt. Has­selfeldt, heute Präsidentin des Deutschen Roten Kreuzes, war eine Vertraute Merkels und zugleich ein wandelnder Vermittlungsausschuss. Hasselfeldt wirkte ausgleichend und mäßigend, sie hatte zu beiden Seiten Zugang. Seit sie nach der Bundestagswahl aufhörte, war Seehofer in Berlin nur noch von Scharfmachern umgeben.