Berlin.

Horst Seehofer macht den Rücktritt vom Rücktritt kurz: Es habe eine Einigung in drei Punkten gegeben, die erlaubt, dass er Innenminister bleibe. „Wir haben uns nach sehr intensiven Verhandlungen zwischen CDU und CSU geeinigt. „Wir haben eine klare Vereinbarung, wie wir die illegale Migration an den Grenzen zwischen Deutschland und Österreich verhindern“, sagt Seehofer. Es habe sich gezeigt, dass es sich lohnt für eine Vereinbarung zu kämpfen, fügt er an. Es sei eine „sehr, sehr klare Übereinkunft“, die es ihm erlaube, sein Amt zu behalten.

Sagt er und verschwindet in die Berliner Nacht. Die Details der Einigung zu verkünden, überlässt der CSU-Chef dann den Generalsekretären von CDU und CSU. Die acht Unterhändler der Union haben es zuvor geschafft, einen Bruch der Union und damit einen Bruch der Regierung zu verhindern. Kanzlerin Angela Merkel betont nach den Gesprächen, man habe sich auf Transitzentren an der deutsch österreichischen Grenze geeinigt, von der man dann Asylbewerber zurückführen werde. „Nach hartem Ringen und schwierigen Tagen habe man einen wirklich guten Kompromiss gefunden“, sagt Merkel zufrieden. „Damit ist genau der Geist der Partnerschaft in der EU gewahrt und gleichzeitig ein entscheidender Schritt getan, um Sekundärmigration zu ordnen und zu steuern. Das ist genau das, was mir wichtig war und ist“, betont die CDU-Chefin – um sich kurz danach am Kanzleramt zum Koalitionsgipfel mit der SPD zu treffen.

„Für die CSU ist das ein wichtiger Tag für Deutschland, aber auch für die Union“, sagt CSU-Generalsekretär Markus Blume und erklärt die Einigung: Asylbewerber würden aus den geplanten Transitzentren direkt in EU-Staaten abgeschoben, wo sie bereits registriert sind - wenn es entsprechende Abkommen mit den Ländern gebe. Für alle anderen Fälle plane man ein Abkommen mit der Republik Österreich, wie diese Menschen schon grenznah abgewiesen werden könnten. Der CSU-Politiker spricht von einem wichtigen Schlussstein hin zu einer restriktiveren Asylpolitik. „Die Sicherheit unseres Landes beginnt an der Grenze.“

Merkel und Seehofer hatten vor der Sitzung im Adenauer-Haus unter sechs Augen mit Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble (CDU) gesprochen. Hier soll der grundsätzliche Durchbruch erfolgt sein. Der erfahrene Politiker sollte vermitteln im erbitterten Streit zwischen den Schwesterparteien. Es war mehr als nötig. Denn Seehofer hatte noch kurz zuvor via „Süddeutscher Zeitung „wissen lassen: „Ich lasse mich nicht von einer Kanzlerin entlassen, die nur wegen mir Kanzlerin ist“, sagt der CSU-Chef. Er sei in einer Situation, die für ihn unvorstellbar sei. „Die Person, der ich in den Sattel verholfen habe, wirft mich raus.“ Das Interview gab er auf der Autofahrt von Ingolstadt nach Berlin. Seine Verbitterung machte die Suche nach einer Lösung nicht leichter.

Nach seiner Rücktrittankündigung am Sonntagabend steht am Montag die Zusammenarbeit der Union im Bundestag und damit die große Koalition auf dem Spiel. Die CDU und ihre bayerische Schwester CSU streiten darüber, ob bereits anderswo registrierte Flüchtlinge an der deutschen Grenze zurückgewiesen werden sollen – Seehofer besteht darauf, Merkel will das nicht. Bei einem EU-Gipfel hatte sie eine Verschärfung der Asylpolitik der EU und die Aussicht auf bilaterale Abkommen ausgehandelt, aber der CSU reicht das nicht. Der 68-Jährige hat nach der erfolglosen Suche nach einer Lösung seinen Rücktritt angekündigt, falls die CDU nicht einlenkt.

Der Tag nach dem dramatischen Fast-Rücktritt beginnt früh: Um kurz vor neun tritt der Bundesvorstand der CDU im Adenauer-Haus zusammen. Nur wenige Stunden Schlaf liegen hinter den Vorstandsmitgliedern. Irgendwann, gegen eins, hatte man beschlossen, nicht weiter auf das Münchner Drama blicken zu wollen. Und auf den Morgen zu vertagen.

NRW-Ministerpräsident Armin Laschet sagt, die Position der CDU sei unabhängig von Personen: „unabhängig von Horst Seehofer oder Angela Merkel, weil wir die europäische Lösung wollen“. Ähnliches hatte er auch am frühen Morgen bereits geäußert. Laschet kam aus der Sitzung des Bundesvorstandes, war fassungslos ob der Ereignisse in München. In der CDU-Zentrale ärgerte man sich maßlos darüber, dass der Masterplan in München bei der CSU-Vorstandssitzung verteilt worden war, in Berlin jedoch immer noch fehlte. Ihm war der Ärger, aber auch die Besorgnis anzumerken, dass da möglicherweise mehr kaputtgeht. Es gehe um das Land, um gemeinsame Werte und ja, besonders auch um Europa.

Im Vorstand ergreift Wolfgang Schäuble das Wort. Und warnt: Beide Parteien der Union blickten „in den Abgrund“. Die CDU-Führung hält an ihrem Beschluss von Sonntagabend fest. Da hatte man sich klar gegen einen nationalen Alleingang in der Asylpolitik gestellt und stattdessen eine europäische Regelung angemahnt, die man schnellstmöglich umsetzen will. Doch die Stimmung ist mies: Mehrere Bundesvorstandsmitglieder werfen der CSU-Spitze eine bewusste Desinformationspolitik über das vor, was in der EU vereinbart worden sei und was in der CDU diskutiert werde.

In Bayern werden alte Rechnungen beglichen

Die CSU ventiliert dagegen am Morgen, Merkel habe ein Kompromissangebot von Seehofer abgelehnt. Bei dem zweistündigen Krisentreffen im Kanzleramt am Sonnabendabend schlug Seehofer demnach vor, nicht alle Mi¬granten zurückzuweisen, die bereits in anderen EU-Ländern registriert sind, sondern nur solche, bei denen das Asylverfahren bereits läuft. Auch war Seehofer demnach bereit, Migranten, die in Griechenland oder Spanien registriert wurden, nicht zurückzuweisen. Merkel habe auch diese Varianten am Sonnabend abgelehnt, schimpft ein CSU-Mann.

Mildere Töne dagegen von einer Schlüsselfigur des bayerischen Machtkampfs. „Wir sind zu Kompromissen bereit, das muss man ja auch sein in der Politik“, erklärt Bayerns Ministerpräsident Markus Söder in Passau. „Die Stabilität der Regierung steht für uns nicht infrage, auch ein Aufkündigen einer Fraktionsgemeinschaft ist nicht der richtige Weg. Man kann in einer Regierung viel erreichen, aber nicht außerhalb.“ Möglicherweise, so unkt ein CSU-Grande per SMS, käme diese Einsicht etwas spät.

Dass es auf keiner Ebene mehr stimmt zwischen den Schwesterparteien, wird auch an den rein formalen Fragen an diesem Tag deutlich. Am Morgen heißt es aus München, die gemeinsame Unionsfraktionssitzung am Montagmittag sei abgesagt worden. Nachfrage beim CDU-Teil des Fraktionsvorstands: Nein, davon wisse man nix. Zwei Stunden später heißt es aus der CDU, die Sitzung finde nicht statt. Dann – Überraschung – tagt man doch.

In Bayern werden unterdessen alte Rechnungen beglichen. Seehofer stürzte einst den ehemaligen Parteichef Erwin Huber. Der lässt jetzt verlauten, für Seehofer gebe es keine Alternative zum Rücktritt. Dies sei „unausweichlich“. Eine neue Konstellation. Und wer? „Dobrindt oder Bayerns Innenminister Joachim Herrmann“, als Innenminister eher ein Softie im menschlichem Umgang. Ein bisschen Sehnsucht nach Harmonie dürfte bei den Wünschen durchaus mitschwingen.

Um 14 Uhr kommt es dann zur Sitzung der Schwesterparteien im Bundestag. Innenminister Seehofer ist da noch auf der Autobahn zwischen Ingolstadt und Berlin, gibt sein Interview. CDU-Chefin Merkel sagt vor der Fraktion, der Erhalt der Schicksalsgemeinschaft sei „jede Mühe wert“. „Der Wunsch, das zu lösen, ist groß“, sagt sie. Man arbeite an einer Lösung, heißt es beflissen. Aber wie sie aussieht, kann keiner skizzieren.

In der SPD herrscht nach der Seehofer-Nacht eine Mischung aus Entsetzen und ungläubigem Staunen. Eigentlich sind ja die Genossen für die Rolle der Drama-Queen fest gebucht. Für den Weg in die GroKo brauchte die SPD drei Parteitage und eine Mitgliederbefragung, ein Parteichef (Martin Schulz) und ein Außenminister (Sigmar Gabriel) gingen über Bord. Ironie der Regierungskrise ist, dass ausgerechnet Schulz Anfang Februar in der finalen Nacht bei der Ressortverteilung zwischen Union und SPD Seehofer auf die Idee gebracht haben will, Innenminister zu werden.

Die Sozialdemokraten wirken angesichts der chaotischen Zustände beim Koalitionspartner nun unverhofft wie ein Hort der Stabilität. Arbeitsminister Hubertus Heil preist Finanzminister Olaf Scholz als Stabilitätsanker, quasi als Anti-Seehofer. Aus dem „Scholzomaten“ wird zwar kein Entertainer mehr, aber ein Regierungsprofi ist der 60-Jährige zweifellos. So was könnte in unruhigen Zeiten ein Pfund sein. Bei Neuwahlen dürfte es schwer werden, Scholz von der Kanzlerkandidatur fernzuhalten. Scholz’ größte Sorge war aber, dass die Koalition platzt, bevor am Donnerstag der Bundeshaushalt für 2018 vom Parlament beschlossen wird. Dann würden Milliarden für Familien, Kitas und Schulen auf Eis liegen.

Dann hat die SPD-Chefin ihren Auftritt. Nahles ist schockiert über den Streit zwischen CDU und CSU. „Die Union führt ein rücksichtsloses Drama auf.“ Die CSU sei auf einem beispiellosen Egotrip. „So wie es jetzt läuft, kann es nicht weitergehen.“ Erneut berufen Nahles und Scholz den Koalitionsausschuss ein, um Seehofer und Merkel zur Rede zu stellen. Noch am späten Montagabend, nach Redaktionsschluss dieser Ausgabe, wollte die Spitzenrunde zusammenkommen, um die GroKo zu retten. Bislang war die SPD in der Zuschauerrolle. Aber es gilt: mitgehangen, mitgefangen. Umfragen zeigen, das desolate Erscheinungsbild von Schwarz-Rot schadet auch der SPD. Groß ist die Furcht, bei einer Neuwahl noch schlechter als 20,5 Prozent abzuschneiden.